Der Himmel über Berlin

Günter Grass, Viva-Chef Dieter Gorny und die Sozialdemokratie

1965 ist Günter Grass für Willy Brandt auf Wahlkampftournee gegangen. Wer den Reden des Autors zuhören wollte, mußte Eintritt zahlen. Mit dem Erlös wollten Grass und die Studenten, die ihn unterstützten, Bücher für Bibliotheken der Bundeswehrkasernen anschaffen, "Historiker, Philosophen und Soziologen. Daneben gute Kriminalromane: Wir wollen ja nicht mit angestrengtem Zeigefinger herumlaufen. Aber auch Marx und Engels sollen greifbar sein, denn unsere Bundeswehrsoldaten sind mündige Leser."

Als Wahlkämpfer hantierte Grass mit plakativen Parolen, die DDR sei ein "Möchtegernstaat", und Willy Brandt habe als Regierender Bürgermeister von Berlin bewiesen, daß er "aus Ulbrichts dickem Knüppel einen Bumerang zu schnitzen" verstehe. Die Proteste vom 17. Juni 1953 deutete er als Ruf nach der Sozialdemokratie: "Wählt für jene Arbeiter aus den Zeiss-Werken in Jena, aus der Farben Wolfen, wählt für die zwölftausend Henningsdorfer und die Bauarbeiter von der Stalinallee, die vor zwölf Jahren für ein soziales und demokratisches Deutschland eingetreten sind, die" (- von Adenauer -) "im Stich gelassen wurden und seitdem verstummten. Wählt, damit Willy Brandt die Sache der Landsleute 'da drüben' regierungsverantwortlich 'hier drüben' vertreten kann."

Der Schriftsteller hatte, wie es sich für einen glaubwürdigen Wahlkämpfer gehört, dabei stets das Ganze im Blick: "Ohne Umschweife ausgesprochen, wäre dies wünschenswert: Die SPD übernimmt die Regierungsverantwortung und hat eine ganz neue Kritik zu erwarten. Die CDU (Ö) findet als Oppositionspartei eine demokratische Chance, sich an Haupt und Gliedern zu regenerieren. Denn man möge doch nicht glauben, daß es eine Schande sei, das schwere Handwerk Opposition auszuüben. Zum Nutzen unseres Staates wünsche ich der zukünftigen CDU-Opposition in Bonn (Ö) Erfolg und Geschick." Die politische Auseinandersetzung wirkte zu dieser Zeit polarisierend: Politik und Verwaltung wurden von ranghohen Hitler-Gefolgsleuten in Gang gehalten, der Kandidat Brandt hatte - wie Grass in seinen Wahlreden betonte - gegen die Naziherrschaft Widerstand geleistet. Die SPD besaß von größeren Teilen der gesellschaftlichen Eliten sanktionierte Pläne, die Verwahrlosung des Gesundheits-, Bildungs- und Justizwesens zu stoppen, ihre neue Ostpolitik schien sich durch eine versöhnungsorientierte Anerkennung des europäischen Status quo auszuzeichnen. Es war ein Programm kapitalistischer Modernisierung, das durch die Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen die westdeutsche Konkurrenzfähigkeit auf demWeltmarkt erhöhte, das den real existierenden Sozialismus durch eine Umarmungs-Taktik effektiver bekämpfte als die Abgrenzungspolitik der CDU und das die ideologische Hegemonie der Nazi- und Adenauer-Seilschaften einschränkte.

Während die CDU unter Kanzler Ludwig Erhard für das immobile und korporatistische Modell der "formierten Gesellschaft" stand, versprühte Brandts (später entwickelte) Parole "Mehr Demokratie wagen" einen ganz anderen Charme und warb für Kosmopolitismus, Experimentierfreudigkeit, Chancengleichheit, Friedfertigkeit und Toleranz. Grass umschrieb die Perspektive, die die SPD eröffnet hatte, so: "Heiter bis wolkig. Mäßig schwankende Kurse. Albern wechselnde Moden. Schulen so viele, daß blöd bleiben Kunst wird. Reformen und Wohlfahrt. Solide, etwas farblose Sozialdemokratie. Und kein Gedröhn mehr und Schicksalsgeraune. Nie mehr Kreuzzüge und über Gräber vorwärts. Ohne den alten Schuh Weltanschauung. Auch ohne Elitegeist und abendländische Überheblichkeiten. Das wäre ein Buch. Anmutig, voller Gelächter (...)"

Im Anspruch, rückhaltlos im Dienste Deutschlands zu stehen, waren sich Sozialdemokraten und Konservative allerdings einig. Wer damals für die SPD stimmte oder ihrem Troß beisprang, hatte eine an marktwirtschaftlicher und (damit) nationaler Rationalität geschulte Entscheidung getroffen. Wer heute für die SPD stimmt oder ihrem Troß beispringt, hat eine Entscheidung getroffen, die nicht im rationalen Abwägen zwischen verschiedenen Möglichkeiten begründet ist, sondern sich auf Instinkt und Emotion verläßt.

Nichts illustriert dies besser als die Äußerungen aus dem informellen Kreis von Intellektuellen und Kulturschaffender (zu dem auch Grass gehört), der sich gegenwärtig um Gerhard Schröder und seinen designierten Staatsminister für Kultur, Michael Naumann, bildet. Oskar Negt, Soziologieprofessor in Hannover, hat sich, wie er selbst sagt, ein "Büchlein abgequält", das Argumente für die Wahl der SPD vorstellt ( Jungle World, Nr. 31/98). Der Wissenschaftler listet auf 140 Seiten zumeist am "Gemeinwesen" orientierte und dem SPD-Programm eher fremde Wünsche an die Politik auf.

Ein Argument aber scheint Negt so wichtig, daß er es gleich zweimal aufschreibt. Formuliert hat es Georg Christoph Lichtenberg in einem Aphorismus: "Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden kann, wenn es anders wird; aber soviel kann ich sagen: Es muß anders werden, wenn es gut werden soll." Während Negt seine Kalender-Weisheit noch mit der Erinnerung an klassisch sozialdemokratische Solidaritäts- und Verteilungspolitik unterlegt und in hoffnungsvoller Hoffnungslosigkeit darauf verweist, die Sozialdemokraten hätten trotz aller Verfehlungen doch zumindest immer das Beste gewollt, dringt aus einer anderen Ecke ein Geraune, das Schröders und Negts Rede von "einem nachhaltigen Macht- und Politikwechsel" auf ihre Substanz reduziert und damit deutlich machen kann, daß der Wahlkampf der SPD als ästhetische Inszenierung erfolgreich auf das verstandesferne Ressentiment zielt. Jürgen Flimm, Intendant des Hamburger Thalia-Theaters, Arnulf Conradi, Chef des Berlin- und des Siedler-Verlages sowie Dieter Gorny, Geschäftsführer des Pop-TV-Senders Viva, haben das an Schröder adressierte Strategiepapier "Aufbruch für Künste und Kultur in Deutschland" mitverfaßt und dem Spiegel letzte Woche ein Interview gegeben. Flimm, der 1993 aus Protest gegen die von der SPD mitbetriebene Liquidierung des Asylrechts aus der Partei ausgetreten war, beantwortet die Frage, wie er nun deren Kanzlerkandidaten beraten kann, so: "Das hat doch nichts mit der SPD zu tun. Ich kenne Schröder persönlich."

Die Begeisterung für Schröders folgt zwei Affekten, die miteinander verwandt sind und nur im Gebrabbel sich äußern können. Man diskutiere darüber, so Flimm, "welches kulturelle Selbstbewußtsein die neue Berliner Republik entwickeln könnte", auch über die "Repräsentanz der Kultur im Zentrum der neuen Berliner Republik", auch über "die Frage, was die kulturelle Identität der Berliner Republik sei". Die Berliner Republik hat mit Aufbruch zu tun: Berlin, so Flimm, "ist der Ort, wo die Sprache für das Neue gefunden werden muß, die Sprache, wenn Sie so wollen, für eine geistig-moralische Wende der Nach-Kohl-Ära."

"Dieser Neuanfang bietet die Chance, eine neue Form der Kulturpolitik zu entwerfen", so Conradi, und: "Der Aufbruch ist sozusagen Hintergrundmusik. Der kommt automatisch mit einem politischen Wechsel zu einem jüngeren Amtsinhaber mit anderem Politikverständnis und anderem Programm." Auf die Frage "Wohin soll die Kunst denn aufbrechen?" antwortet Flimm: "Es ist schon ein Aufbruch, wenn der möglicherweise künftige Kanzler der Kultur" mit einem eigenen Ministerium "eine derart herausgehobene Bedeutung zumißt."