Im Bannkreis des Pietismus

Die Real-Biographie einer literarischen Figur: Hellmut Haasis recherchiert die Vita von Joseph Süß Oppenheimer

Joseph Süß Oppenheimer, von seinen Gegnern "Jud Süß" genannt, wurde vor allem durch Lion Feuchtwangers Roman und Veit Harlans Film populär, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise. Der eine warb um Sympathie für den genialen Finanzier des württembergischen Herzogs, der andere verzerrte ihn im Auftrag der Nazis zum Prototypen des volksfeindlichen Blutsaugers. In Harlans suggestivem Machwerk erscheint seine Hinrichtung im Jahre 1738 als "arische" Notwehr - die cineastische Vorbereitung von Hitlers "Endlösung".

Wie es dem Regisseur möglich wurde, an Motive des Feuchtwanger-Romans anzuschließen, wird beim Vergleich des Romans mit einer neuen Biographie des württembergischen Juden deutlich. Hellmut G. Haasis hat in mehrjähriger Arbeit nicht nur alle staatlichen und privaten Archive zwischen Rhein und Neckar gesichtet, sondern erstmals auch die Akten des Süß-Prozesses ausgewertet. Wenn man danach den Roman noch einmal liest, fällt eines besonders auf: Feuchtwanger hat seine Titelfigur zwar positiv und einfühlsam konturiert - offensichtlich aber die wichtigsten Geschichtslegenden, die dessen Mörder nach ihrer Tat in Umlauf gesetzt hatten, ohne Prüfung übernommen.

Der Punkt, von dem aus Feuchtwanger den Spannungsbogen seines Romans konstruierte, entspringt der Geschichtsfälschung der schwäbischen Pietisten. Demnach wollte Herzog Carl Alexander, der seit 1733 als erster katholischer Regent über das erz-lutherische Württemberg herrschte, das Land dem päpstlichen Glauben unterwerfen. Süß habe ihn in diesem Vorhaben nicht nur bestärkt, sondern den Putsch auch noch konkret geplant: In einer koordinierten Aktion sollten die protestantischen Minister verhaftet und die Ständeverfassung zugunsten der absoluten Macht des Potentaten ausgehebelt werden.

Der Jude als Drahtzieher - dieses antisemitische Motiv wird bei Feuchtwanger philosemitisch gewendet: Bei ihm treibt Süß den Staatsstreich ebenfalls voran, wenn auch aus einem edlen Motiv - um den tyrannischen Carl Alexander in die Falle seiner Gegner laufen zu lassen. Bei Feuchtwanger haßt Süß den Herzog, seit seine Tochter Naemi zu Tode gekommen war, als sie sich dem Zugriff des Feudalherrn entziehen wollte.

Haasis hält die Putsch-These für ein "patriotisches Märchen". Die Evangelischen hätten selbst nicht daran geglaubt, da sie ansonsten Bürgerwehren mobilisiert und Zünfte bewaffnet hätten. "Das Putschgerücht diente nur dazu, die Stimmung im Land gegen Süß anzuheizen." Vielmehr hat die protestantische Landesregierung selbst mit allen Tricks gearbeitet, um die modernen Verwaltungsmethoden ihres aufgeklärten Potentaten und seines Finanzrates zu blockieren. Carl Alexanders überraschender Tod kam gerade recht, um den protestantischen Fundamentalismus wieder zu installieren. Dafür mußte dann auch Süß sterben.

Feuchtwanger ließ sich bei seinem Roman von der zeitgenössischen Süß-Biographie Manfred Zimmermanns inspirieren, in der das Schicksal Oppenheimers als "ein Stück Absolutismus- und Jesuitengeschichte" verallgemeinert wird. Das war es gerade nicht: Der zum Absolutismus neigende und von den Jesuiten protegierte Carl August schützte Süß. An diesem Gespann entzündete sich eine "konservative Revolte" (Haasis), die in ihrem Bezug auf Luthers antirömische und antisemitische Affekte zentrale Elemente des preußisch-deutschen Sonderwegs vorwegnahm.

Im Bündnis des Herzogs mit seinem Finanzrat konstituiert sich für Feuchtwanger eine profitsüchtige Moderne - nach dem Tod seiner Tochter kündigt der fiktive Süß diesen teuflischen Pakt und findet Ruhe in den mystischen Quellen seiner Religion. Der Roman sollte, so der Autor, gleichnishaft "den Weg des Menschen weißer Haut" zeigen: "Den Weg über die enge europäische Lehre von der Macht über die ägyptische Lehre vom Willen zur Unsterblichkeit bis hin zu der Lehre Asiens vom Nichtwollen und Nichttun."

Was Haasis über den wirklichen Süß herausgefunden hat, macht die literarische Figur zum esoterischen Konstrukt: Süß war bis zu seiner Ermordung ein Mann der Tat, der mit allen juristischen und politischen Argumenten um sein Leben kämpfte. Seine Zeitgenossen hat er ebenso fasziniert wie verstört, weil er es mit der Religion nicht besonders genau nahm - bis zuletzt war er Avantgarde der künftigen Aufklärung.

Feuchtwanger schloß das Manuskript für "Jud Süß" 1922 ab. Wie sehr sein Leitthema - ein vor-moderner Jude wird Opfer des Katholizismus und der Moderne - die Spezifik jedenfalls des deutschen Antisemitismus verfehlt, sollte sich schließlich im proto-heidnischen Nationalsozialismus zeigen. Schon aus diesem Grund war es überfällig, daß das falsche Oppenheimer-Bild korrigiert wurde.

Hellmut G. Haasis: Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer. Rowohlt, Reinbek 1998, 479 S., DM 48