Die Totalität vergißt uns nicht

Terry Eagletons Essay über die "Illusionen der Postmoderne"

In den Diskussionen um das Phänomen der Postmoderne schwankt die akademische wie publizistische Kritik in Deutschland schon seit längerem zwischen vorsichtiger Anerkennung und strikter Ablehnung. Eindeutige Positionen dafür oder dagegen werden kaum mehr bezogen - dies allein aber scheint bereits ein Sieg der Postmoderne zu sein, leugnet sie doch insgesamt jeglichen Systemcharakter in der theoretischen Fundierung des Sozialen.

Während Feuilleton und Kulturkritik sich in loyalen Begriffsübernahmen aus dem Arsenal der postmodernen Slogans üben, um ihre Texte mit "subversiver Dispositivität" ausstatten zu können, verbreitet die Akademie inzwischen einige Ratlosigkeit, denn so paradigmenstürzend ist die postmoderne Theorie wohl doch nicht, obgleich es anfangs, in der ersten Begeisterung, zunächst so aussah, als würden ganze Institute zur Postmoderne konvertieren.

Insbesondere in Philosophie und Sozialwissenschaften sind allerdings, wenn auch unter generöser ("differenzierter") Zurückweisung kompletter Theoriegebäude der Postmoderne, Elemente des postmodernen Denkens eingegangen, die in der Regel Lösungsstrategien für im Moment nicht lösbare gesellschaftliche Probleme darstellen. So sind im akademischen Diskurs Thesen von der Fragmentierung des Subjekts, von der ambivalenten Agonie des Politischen, vom nur noch kontingenten Verlauf der Geschichte und von der Ablehnung einer universalen Vernunft durchaus präsent, ohne daß die postmoderne Urheberschaft dieser Thesen benannt wird. Die weitläufige Akzeptanz der postmodernen Denkelemente befriedigt in der Philosophie diejenigen Geister, die wenigstens noch das schlechte Gewissen plagt ob des Zustandes ihres Fachs, das sich schon längst von der Suche nach dem guten Leben und der positiven Welterkennung als Anleitung zum Handeln verabschiedet hat. In den Sozialwissenschaften verdeckt der postmoderne Eindruck hingegen nur das alte, von Kracauer schon in den zwanziger Jahren identifizierte Dilemma, zwischen heillosem Relativismus und sinnloser Stoffanhäufung hin und her lavieren zu müssen, somit zu eigentlich keinen verwertbaren Erkenntnissen zu gelangen und, auf heute angewandt, z.B. vor der Ideologie des angeblichen "Sachzwanges" der Globalisierung theoretisch zu kapitulieren.

Ist auch die erkenntnislogische Substanz der Postmoderne vielleicht dünn, so ist sie dennoch kein theoretischer Irrtum, wie der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton an einer Stelle seines neuen Essays zur Lage der Gesellschaftstheorie in der Gegenwart anmerkt. Eagleton, der dem deutschen Publikum in den letzten Jahren mit den marxistischen Arbeiten über Ideologie (1993), Literaturtheorie (1994) und Ästhetik (1994) bekannt gemacht wurde, begeht nicht den in linken Kreisen oft zu beobachtenden Fehler, die Postmoderne einzig als Krisensymptom oder Fin-de-siècle-Theorie des fortgeschrittenen Kapitalismus zu begreifen. Natürlich bedeutet Postmoderne auch das, aber einer ihrer Vorzüge ist nach Eagleton die Sensibilisierung des Denkens gegenüber "verhöhnte(n) und erniedrigte(n) Gruppen", die damit begonnen haben, "etwas von ihrer Geschichte und ihrem Selbst wiederzugewinnen", und zwar mit thematischen Bezugspunkten, die ein vielfach doktrinärer Sozialismus, besonders im Hinblick auf die Minderheitenproblematik, häufig vernachlässigt hatte. Daß jedoch die Hinwendung zu kultureller Differenz, geschlechtspolitischer Vielfalt und sprachlicher Heterogenität, die die Postmoderne für sich reklamiert, die weiterhin drängenden Fragen ökonomischer Ausbeutung und Unterdrückung, sozialem Elend und neokolonialer Unterentwicklung möglicherweise nur aufgrund der virtuosen Handhabung von Sprachspielen oder der Neuentdeckung sexuellen Bewußtseins gleich mitgelöst hätte, gehört zu den grundlegenden Illusionen der Postmoderne, deren sozialphilosophische Prämissen tiefer liegen und einer Freilegung bedürfen.

An dieser Freilegung versucht sich Eagleton mit den Mitteln der dialektischen Methode, einer offenbar völlig aus der Mode gekommenen Vorgehensweise, die soziale Phänomene anhand ihrer immanenten Widersprüchlichkeiten erklären will.

Eagleton deutet die Postmoderne demzufolge sowohl als spezifischen geistigen Ausdruck der derzeitigen Orientierungslosigkeit des Denkens über die Welt als auch als eine potentielle Erschütterung des universalen Fortschrittsglaubens kapitalistischer Rationalität. Die widersprüchliche Konstitution der Postmoderne äußert sich danach einerseits darin, daß die wichtigsten Denksysteme des neuzeitlichen Kapitalismus (Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus) zunehmend ihrer theoretischen Fundamente beraubt werden und die Postmoderne in die durch fehlende Zukunftsentwürfe entstandene Konfusion mit Vehemenz eindringt, indem sie sich selbst als allein noch mögliche geistige Alternative setzt. Während nämlich den emanzipatorischen, kapitalismuskritischen Kräften das Ziel ihrer Veränderungsabsichten kaum noch aufscheint, sind auch die Freiheitsdoktrin des Liberalismus und sogar die rückwärtsgerichtete Utopie des Konservatismus dabei, ihre soziale Bindungskraft einzubüßen.

Eine größere Anzahl gläubiger Postmodernisten (u.a. Jean Baudrillard, Jean-Fran ç ois Lyotard, Richard Rorty, Alasdair MacIntyre, aber auch der von Eagleton nicht behandelte Zygmunt Bauman) halten daher die eigenen Obduktionsversuche an der Gesellschaft für die Lösung aller Übel schlechthin, so daß das dezentralisierte, differente und ambivalente ("andere") Individuum, auf sich selbst zurückgeworfen und niemandem mehr Rechenschaft schuldig, ein von allen sozialen Verbindungen völlig freies Individuum wird, ohne an einen irgendwie realisierbaren Politikentwurf überhaupt noch zu glauben. Postmoderne Orientierungslosigkeit gerinnt aber nach Eagleton zur Ideologie, weil von den Postmodernisten wesentliche gesellschaftliche Probleme so gering geschätzt werden, als wären sie gar nicht mehr da. Was die Freiheit betrifft, so nimmt die Postmoderne den theoretischen Kampf mit Liberalismus und Kommunitarismus (eine der letzten geistigen Strömungen, die die Degeneration des Westens mit Hilfe der Appellation an bürgerliche Werte aufhalten will - im übrigen sind einige führende Kommunitaristen gleichzeitig begeisterte Postmodernisten) auf, um letzten Endes die Nachteile beider Denkrichtungen als postmoderne Vorzüge auszugeben.

Vom Liberalismus entwendet die Postmoderne nicht dessen These von der abstrakten Gleichheit aller Menschen, sondern die Auffassung, daß die Freiheit des Subjekts durch nichts von der Gesellschaft beschränkt werden darf, am Kommunitarismus fasziniert die Postmoderne nicht so sehr die Idee des Gemeinschaftlichen, sondern eher der Wertkulturalismus, dem eine gefährliche Mischung aus WASP-Ideologie und Kulturindustrie anhaftet und der soziales Elend in der Gesellschaft immer öfter für irrelevant erklärt. "Radikale können dann schließlich, wie alle anderen, ihre Ketten küssen, ihre Gefängniszellen schmücken, die Stühle auf dem Deck der Titanic wieder neu aufstellen und echte Freiheit in der schlimmsten Not entdecken."

Wenn die Postmoderne andererseits dennoch die universale Rationalität des Kapitalismus untergräbt, so tut sie das nicht deswegen, weil sie politische oder philosophische Auswege aus der terroristischen Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft anzubieten hätte, sondern weil sie sich mit aufopferungsvollem Engagement den Randzonen der Gesellschaft zuwendet, in denen die dort lebenden Individuen die Ungerechtigkeiten des "modernen" Lebens gleich mehrfach kodiert und unheilvoll miteinander verknüpft erfahren müssen. Frauen, Menschen mit anderer als weißer Hautfarbe oder mit sexuellen Abweichungen von der bürgerlichen Normalität sind ja nicht nur dem Verwertungszusammenhang des Kapitals ausgeliefert, sondern sie sind überdies mit einem Höchstmaß an bürgerlicher Feindschaft konfrontiert, wenn sie ihr Glück unter den heutigen unglückseligen Umständen in der Verweigerung suchen, herrschende Konventionen zu praktizierender Zweckrationalität nicht teilen oder ihnen zugeschriebene und sie stigmatisierende Eigenschaften ablehnen.

Daß hier die Postmoderne festgefahrene Dogmen der Bürgerlichkeit aufgebrochen hat, ist ihr Verdienst, und der feministische wie der antirassistische Diskurs lebt von der postmodernen Empfindlichkeit Marginalisiertem gegenüber. Eagleton schätzt diese Tatsache so ein: "Wenn die Entrechteten wirklich an die Macht gekommen sind, werden wir das daran erkennen, daß das Wort 'Macht' nicht mehr das bedeutet, was es bislang bedeutete. Der Paradigmenwechsel, der sich dementsprechend vollzogen hat - eine handfeste Revolution in unserer Auffassung der Beziehungen zwischen Macht, Begehren, Identität und politischer Praxis - bedeutet eine unermeßliche Intensivierung der dürftigen, anämischen und verkniffenen Politik einer früheren Ära. Ein Sozialismus, der sich angesichts dieser reichen, ausdrucksstarken Kultur nicht verändert, wird sicherlich von vornherein chancenlos sein."

Bedauerlicherweise heißt Postmoderne aber auch in jedem ihrer Denkschritte Übersteigerung. In dem Plädoyer für die Randzonen der Gesellschaft verwirft die Postmoderne alle bisherigen Erkenntnisse über die Verfaßtheit unserer Gesellschaft als System, über ihre Totalität und Geschichtlichkeit. Diese theoretischen Parameter umschreiben den sozialphilosophischen Kern der Postmoderne und gehören gleichzeitig zu den entscheidenden Trugschlüssen der postmodernen Gesellschaftsauffassung. Die Verabsolutierung der Atomisierung, Partikularisierung und Unverbindlichkeit sozialer Prozesse, eine wichtige Konsequenz aus Lyotards Behauptung vom angeblichen "Ende der Metaerzählungen", zählt heute zum kaum noch kritisch erörterten Grundkonsens aller Postmodernisten und ihrer Epigonen. Eagleton stellt dazu fest, daß man zwar die Totalität von Gesellschaft bezweifeln kann, aber "wie die Umweltschützer nur allzu gut wissen, bedeutet Universalität letztlich, daß wir den gleichen kleinen Planeten bewohnen; und wenn wir auch die Totalität vergessen, wir können sicher sein, daß sie uns nicht vergißt."

Auch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch die Postmoderne in bezug auf den Totalitätsbegriff mit zweierlei Maß mißt: "Letztlich stellt sich nämlich heraus, daß nur bestimmte Formen von Totalität verdächtigt, andere dagegen begeistert unterstützt werden. Einige Formen von Totalität - Gefängnisse, das Patriarchat, der Körper, absolutistische politische Befehle - gelten als akzeptable Gesprächsthemen, während andere - die Produktionsverhältnisse, Gesellschaftsformationen, Theoriegebäude - stillschweigend ignoriert werden." Insofern zeigt sich an der Position zur gesellschaftlichen Totalität auch die politisch durchaus erwünschte Bedeutsamkeit der postmodernen Theorie. Ähnlich problematisch gestaltet sich für Eagleton die postmoderne Geschichtsvergessenheit. Nur als ein einzigartiger Verlust historischer Erfahrung läßt sich die postmoderne Ansicht bezeichnen, Vernunft, Aufklärung geschichtliche Traditionen und überlieferte kulturelle Muster wären für das menschliche Zusammenleben bedeutungslos geworden. Mit dem offiziösen "Ende der Geschichte", nach Francis Fukuyama höchst fragwürdiger State-Departement-Theorie, die ebenfalls von der Postmoderne ehrfurchtsvoll hofiert wird, soll sich jede teleologische, also die auf ein Ziel gerichtete Vorstellung von Geschichte überlebt haben bzw. das Ziel der Geschichte schon erreicht sein.

Dagegen steht nach Eagleton erstens, daß kein historisch denkender Mensch je wirklich glauben konnte, daß sich die Geschichte eindimensional und metaphysisch vom Niederen zum Höheren entwickelt hat, zweitens, daß es tatsächlich eine teleologische Geschichte der Menschheit gibt, nämlich die "von der Steinschleuder zur Megabombe (. . .), das absolute Leiden", das andauert, womit Eagleton eine elementare Einsicht Adornos aus dessen Buch "Negative Dialektik" aufgreift und aktualisiert, sowie drittens, daß gerade die sozialistische Perspektive darauf dringt, die Leidensgeschichte der Gattung Mensch zu beenden und daß man zu diesem Zweck ein zielgerichtetes politisches Verhalten benötigt. Für die Postmoderne ist Geschichte nichts oder bereits vollendet, und damit ist ihre sozialphilosophische Basis regressiv.

Eagletons Essay ist eine leidenschaftliche Kritik am herrschenden geistigen Zustand am Ende dieses Jahrhunderts. Nicht ein einziges grundlegendes soziales Problem wurde vom Kapitalismus bisher gelöst, und die Postmoderne reflektiert diese Situation mit echter Besorgnis und meist unangebrachter Ironie. Die Postmoderne ist somit Transzendenz und Affirmation des Kapitalismus in sich selbst. Bei Lichte besehen sollte Eagletons Arbeit jedoch nur vordergründig als ein Beitrag zur Debatte um die Postmoderne betrachtet werden. Eigentlich hat Eagleton ein politisch-philosophisches Manifest geschrieben, das der Philosophie im allgemeinen und einem pluralen Marxismus, der diesen Namen wieder verdient, im besonderen zu einer neuerlichen Auferstehung verhelfen könnte. Es handelt sich bei Eagletons Essay um die Rückkehr der Philosophie, um die Wiedereinführung der notwendigen Diskussion über die sozialen Bedingungen menschlichen Lebens. Der glänzende Schreibstil Eagletons und sein an Marx angelehnter beißender Spott gegenüber den reichlich sprießenden Absurditäten der Zeit machen das Werk zu einem Leseerlebnis von hohem Wert.

Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Aus dem Englischen von Jürgen Pelzer. Metzler, Stuttgart/Weimar 1997, 200 S., DM 39,80