Wo ich wohne

Berlin-Steglitz.

Im Hinterhof lärmen die Vögel. KRAH KRAH KRAH die graue Krähe; KREISCH die Elster; und die Tauben? GURRIDIOUH!

Ist Steglitzens Katz' wieder ohne Glöckchen unterwegs, was doch verboten ist?

Herr Z. erzählte vom Bussard, der das Elsterkind gefressen und den er fett und satt auf Nachbars Terrasse habe hocken sehen.

Ein Flug Mauersegler von links.

Hoch droben der Rettungshubschrauber Richtung Klinikum.

Drunten den Rasen muß ich noch scheren mit dem alten motorlosen Rasenmäher. Erst aber weiter im Text:

Aus dem Haus geht's raus nach links leicht bergab. Hinauf der Blick zu den Bäumen am S-Bahndamm, der schützt uns vor der Düppelstraße, und nur leise summt die Autobahn - nicht laut genug für den hoch subventionierten Einbau hallschluckender Fenster aus Bundesmitteln, Frau F. hat's messen lassen.

Folgende Malerköpfe sind in kürbisgroßen Medaillons auf die Fassade des Nachbarhauses zwischen die Fenster im 1. Stock gemalt, v.l.n.r.: Hans Holbein d. J., Raffael, P. P. Rubens, Albrecht Dürer. Der ganze Häuserblock steht seit über einem Jahr unter "Ensembleschutz", das Amt für Denkmalschutz verbietet jede Fassadenveränderung, auch die Anbringung weiterer Porträts wie z. B. Hockney, Yvonne Kuschel, Eugen Egner, Michael Sowa, Bernd Pfarr, Rudi Hurzlmeier.

Weitergehen, weitersehen.

An der Ecke zur Robert-Lück-Straße kriegt mich der Windstoß zu fassen, der dort immer lauert. Die Tür steht auf. Was ist das bloß für ein Geschäft? Kein Schild, kein Name; verkauft wird nichts. Der Geschäftsmann im blaugrauen Kittel, wie Hausmeister oder Verkäufer im Baumarkt ihn tragen, steht vor der Tür. Ein Kleinlaster ist vorgefahren, Pakete und kleine Kisten werden hineingetragen. Im Vorübergehen sah ich drinnen an Stellwänden Stecker, Steckdosen, Kabelteile, Muster von Beschlägen - Rätsel der Heimat. An der nächsten Haustür spricht einer ins Klingelschild: "Ich bin's; mach auf!"

Komm du bloß heim!

Ich geh' weiter. Über dem Schaufenster des folgenden Hauses steht blau auf weiß auf Glas, das abends leuchtet: "SCOUT - Pfadfinder - Camping - Ausrüstung - Die Kaufstätte der Jugend". Das, sagte mir ein Kollege, der dort in seiner Vergangenheit in der Bündischen Jugend Zeltheringe, Wimpel und Wanderschuh' gekauft habe, sei ein traditionsreiches Geschäft. Auf der anderen Seite der Robert-Lück-Straße/Ecke Südendstraße hat diese Tradition vor hundert Jahren ihren Ausgang genommen. Der "Wandervogel" wurde dort im Gymnasium Steglitz erfunden, und die "Jugendbewegung" nahm - mit Erlaubnis des Herrn Gymnasialdirektors - ihren Lauf. Robert Lück hieß der Direktor - Sie erinnern sich? In seiner Straße folgt auf die Kaufstätte ein Trödel: "Antik Nostalgie An- und Verkauf". Das Gymnasium Steglitz aber heißt heute Heese-Gymnasium, nach Johann Adolf Heese, der lange vor den Wandervögeln hier in der Gegend Maulbeerplantagen anlegte und eine große gutgehende Seidenmanufaktur betrieb.

Wo die Robert-Lück-Straße in die Albrechtstraße mündet, erhebt sich im Gegenwind das Eckhaus der Vollreinigung. Der schwarze Hund, der im Schaufenster saß, ist voriges Jahr umgekommen. Auf einem Schild zeigten es die trauernden Besitzer der Kundschaft im Laden an und baten, von Nachfragen Abstand zu nehmen. Ein neuer Hund, nicht so schwarz, hat den Platz im Schaufenster eingenommen. Hoch oben am Erker über der Ecke sind vier rosa Großklunker mit blinden Neonlettern angebracht: "c", "a", "f" und "a". Als wir 1985 in die Südendstraße gezogen sind, gab es das Eckcafé noch.

Das Verkehrsaufkommen der Albrechtstraße ist beträchtlich und fließt, vorbei am Fliederstrauch über dem Imbißhäuschen, unter der S-Bahnbrücke und der Autobahnunterführung stadteinwärts. Zur Linken sehen Sie unser Hochhaus, den Steglitzer Kreisel. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an die Investitionsruine, den Spekulationsschwindel, die Pleite - ein Skandal der sechziger Jahre. Wie es vor dieser Affäre dort aussah, hat Herr Z., der Maler, der unter uns wohnt, auf einer großen Radierung altmeisterlich geätzt und bewahrt: "Der Albrechtshof", ein wunderlicher Bau, zum Abriß verurteilt.

Albrechtstraße: In die Pferdetränke trau' ich mich nicht. Am Fenstertisch sitzen schon am späten Vormittag kühne braungebrannte Trinker mit Stirnband, Bart und Hund. Und wer hockt im "Gemütlichen Steglitzer" am Tresen und sagt: "Hans, machst mir noch'n Bier?" Ich nicht.

Ich geh' lieber furchtlos in die Bäckerei Ecke Heese: "Zwei Schuster, zwei Schrippen und zwei Mohn!" Ich geh' gern in die Buchhandlung und oft in den Copy-Shop, auch wenn der jetzt pro business genannt wird. In der Vorkopierzeit war da ein Gardinengeschäft; das hatte mal ein Schild im verbretterten und vernagelten Schaufenster: "Hat uns der Sturm auch noch so sehr getroffen, / so bleibt doch unser Laden offen".

Ja, ich geb's zu: Ich wohne in Steglitz.

Ich hab's zur U-Bahn nicht weit;

ich hab's zur S-Bahn nicht weit,

und die Bushaltestelle ist nah.

Mir reicht das.

F. W. Bernstein ist Fritz Weigle. Er lebt als Zeichner und Professor für Karikatur und Bildgeschichte in Berlin.

In der nächsten Ausgabe schreibt Thomas Roth über Bonn: "Rhein in Flammen".