Es muss nicht immer von gestern sein

Berlin Beatet Bestes. Folge 37. Disco Vietnam, EP (2009).

Ich kann es nicht verleugnen, ich bin ein eitler Sammler. Ich will zu den Coolen gehören, das war schon so, als ich ein 14jähriger Rockabilly war. Und ich will meine Leidenschaft nicht mit zu vielen anderen teilen. Ich würde zum Beispiel nie auf die Idee kommen, mir eine CD von Xavier Naidoo zu kaufen oder auf eines seiner überfüllten Konzerte zu gehen. Obwohl ich den Sänger mit den pathetischen Texten ziemlich gut finde, er hat immerhin den Soul nach Deutschland gebracht.
Was ich eigentlich sagen will, ist: Ich will vor allem kein unkritischer Konsument sein. Mit den Flohmarktsingles werde ich meinen Idealen leicht gerecht, sie sind eine trendfreie Projektionsfläche. Bei ihnen fühle ich mich nie betrogen.
Allerdings, nur alte Musik zu hören, ist auch wieder langweilig.
An dem Format der Single hänge ich nun mal ganz besonders. Auf ihr ist kein Platz für Füll­material, im besten Fall sind auf ihr die echten Hits. Zum Glück werden Singles nach wie vor produziert, vor allem in der Punkszene.
Entgegen ihrer tatsächlichen Bestimmung als unmittelbare und billige Tonträger sind Singles aber auch in der Punkszene eine sichere Geldanlage. Die kleinen Auflagen mit der oft liebevollen Gestaltung sind mit Kunstdrucken vergleichbar. Was recht bizarr ist, denn so wird eine Anarchopunkplatte unversehens zum kapitalistischen Spekulationsobjekt.
So ein Sammeln nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten finde ich allerdings doof. Ich will als Plattenkäufer viel lieber kreativ sein. Bei Konzerten kann man in so mancher Plattenkiste noch kleine Entdeckungen machen, und wie bei alten Flohmarktplatten fühle ich mich beim Kauf von neuen Hardcoreplatten nicht betrogen.
Im vergangenen Sommer haben drei Berliner DIY-Hardcorepunkgruppen ihre ersten 7-Inches veröffentlicht: Minus Apes, A Bit Of Braindead und Disco Vietnam. Alle drei kann man wohl als Retrogruppen bezeichnen, sie haben sich jedenfalls nicht ausdrücklich vorgenommen, Neues zu erfinden. Minus Apes spielen den südkalifornischen Punksound der späten Siebziger, A Bit of Braindead machen Achtziger-»Thrash«, und Disco Vietnam setzen auf »Early 80’s Hardcore«, einen Szenetrend der vergangenen Jahre. All diese Bands sind noch jung, und eigentlich entsteht immer, wenn kluge junge Leute mit unbändiger Energie, Leidenschaft und Herzblut ans Werk gehen, Neues. Auch wenn sie was ganz Altes machen wollen. Die Energie macht es neu, weil die Energie von heute ist. Vielleicht steckt ja gerade in dieser Unabhängigkeit vom Diktat des Neuen eine Chance, unbeobachtet Neues zu schaffen. Alle drei Gruppen sind jedenfalls live wirklich mitreißend, und in der Musik und den Texten steckt so viel Wut, Verzweiflung und Unzufriedenheit über diese Welt, dass sich die Frage, ob das jetzt gerade angesagt ist oder nicht, eigentlich erübrigt.