Multiple Sklerose

Wenn das Zentralsystem nervt

Über 100 000 Menschen in Deutschland leiden an Multipler Sklerose, einer chronisch-entzündlichen Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Einige von ihnen bemerken kaum, dass sie sie haben. Seltene Fälle sitzen binnen weniger Jahre im Rollstuhl. Bei Knud Kohr, dem Autor dieses Dossiers, wurde sie im Jahr 2003 diagnostiziert.

»17. Oktober 1827. Zu meiner Überraschung bemerkte ich (in Venedig) eine Erstarrung oder Undeut­lich­keit der Empfindung in der Gegend der Schläfe über meinem linken Auge. In Florenz begann ich an einer Störung des Sehvermögens zu leiden: Um den 6. November herum nahm das Übel soweit zu, dass ich alle Dinge doppelt sah. Jedes Auge hatte sein eigenes Bild. Dr. Kissock nahm an, dass ein Übermaß an Galle die Ursache sei: zweimal wurden Blutegel im Bereich der Schläfe angesetzt, Einläufe wurden verabreicht, Erbrechen wurde ausgelöst und zweimal wurde ich zur Ader gelassen, was mit Schwierigkeiten verbunden war. Die Erkrankung meiner Augen klang ab, ich sah alle Dinge wieder natürlich in ihrem einzelnen Zustand. Ich war in der Lage aus­zugehen und zu spazieren. Nun begann sich eine neue Krankheit zu zeigen: Mit jedem Tag stellte ich fest, dass mich schrittweise meine Kraft verließ. Eine Taubheit und Empfindungsstörungen traten an Steißbein und Damm auf. Schließlich hatte mich die Kraft der Beine um den 4. Dezember herum fast ganz verlassen. Ich verblieb in diesem außergewöhnlichen Zustande der Schwäche für etwa 21 Tage … .«

Dieser Tagebucheintrag stammt von Augustus Frederick d’Este, einem Enkel des britischen Königs Georg III. Sie ist eine der ersten bekannten literarischen Beschreibungen der Multiplen Sklerose. Wenige Jahre später folgt eine Darstellung der Krankheit aus medizinischer Sicht. Der schot­tische Augenarzt William MacKenzie beschreibt 1840 die Krankengeschichte eines 23jäh­rigen Mannes, der, nachdem zunächst Sehstörungen aufgetreten waren, wegen zunehmender Lähmungen in das Londoner St. Barth­olo­mew’s Hospital aufgenommen worden war. Zusätzlich entwickelten sich eine Sprachstörung und eine Harninkontinenz. Alle Symptome waren jedoch nach zwei Monaten wieder weitestgehend verschwunden.
Damit beginnt die Erforschung einer Krankheit, an der etwa jeder 120. Mensch auf der Erde leidet. Jedenfalls in den gemäßigten Klima­re­gio­nen. Warum es um den Äquator und die Pole herum weitaus weniger sind, ist eine der vielen Fragen rund um die Multiple Sklerose, die bislang nicht zu beantworten waren. Wer sie warum bekommt und weswegen sie vorwiegend zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr ausbricht, weiß man auch nicht genau. Zu der Frage, warum sie so viele verschiedene Ausprägungen hat, gibt es nur Vermutungen. Aus welchem Grund Frauen und Männer sie im Verhältnis 3:2 bekommen, weshalb einige Kranke jahrelang gar nicht merken, dass sie darunter leiden, während andere nach wenigen Jahren schwerstbehindert sind – auch dazu gibt es nur Spekulationen. Trotz aller pharmakologischen Forschung ist sie bis heute nicht zu heilen, sondern nur in ihrem Fortschreiten aufzuhalten. Selbst ihr Name ist eine reine Beschreibung. Die Krankheit befällt das Zentrale Nervensystem, also das Gehirn und das Rückenmark. Dort entstehen zahlreich verstreute, also »multiple«, Entzündungsherde, die nach dem Abheilen eine Verhärtung, also »Sklerose«, hinterlassen.
Dennoch waren 170 Jahre Forschung natürlich nicht umsonst, und so können über den prinzipiellen Verlauf der MS durchaus präzise Aussagen gemacht werden. Man stelle sich dazu das Gehirn als Verteilerkasten vor. Von hier aus werden über das Rückenmark Signale an jeden Muskel des Körpers gesendet. Und zwar mithilfe von Nervenfasern. Bleiben wir im Bild und betrachten sie als Kabel. Jedes dieser Kabel hat eine Isolationsschicht aus einer weißen, fettreichen Substanz namens Myelin, die für eine schnellere Signalausbreitung sorgt. Leidet ein Mensch an MS, beginnen die körpereigenen Immunkräfte, also die weißen Blutkörperchen, dieses Myelin plötzlich zum Feind zu erklären und es anzugreifen. Die Isolation des Kabels wird gefressen, und das Kabel brennt durch. Der Nervenstrang kann seine Signale nicht mehr weiterleiten. Nach einiger Zeit erkennt der Körper seinen Fehler und repariert die Schadensstelle. Dabei allerdings bleiben Narben zurück. Je härter die sind, desto schlechter können danach Signale hindurchgeleitet werden. Der Kranke gewinnt prinzipiell seine Fähigkeiten wieder zurück. Manchmal allerdings nur eingeschränkt. Und irgendwann kommt bei fast allen der nächste Schub.
Aus statistischen Erhebungen weiß man, dass die MS in den ersten Jahren am stärksten ist und sich ihr Verlauf danach abschwächt. Daraus wurde die etwas seltsam klingende »Vier-Jahres-Regel« abgeleitet, die besagt: In den ersten vier Jahren treten etwa 75 Prozent der Schäden auf, die die Krankheit dem Patienten insgesamt abfordern wird.
Drei Viertel der Erkrankten haben diesen Verlauf der Krankheit, den man »primär schubförmig« nennt. Das heißt, der Körper attackiert sich in gewissen zeitlichen Abständen schubweise selbst, dann repariert er sich wie eben be­schrieben. Die übrigen Patienten, vorrangig die älteren, zeigen einen »primär chronischen« Verlauf. Dabei schreitet die Krankheit langsam, aber ohne eigentlich abgrenzbare Schübe permanent voran.
Für alle aber gilt: MS ist weder ansteckend noch erblich noch tödlich.
Wie merkt man eigentlich, dass man selbst an MS erkrankt ist? Die Antwort darauf ist nicht leicht zu geben. Da die Entzündungsherde im Hirn manchmal die Größe eines Stecknadelkopfes haben und manchmal die einer Euromünze, und da man keine Aussagen machen kann, wann und wo sie sich bilden, ist die Ausprägung der Krankheit individuell höchst unterschiedlich. Man merkt irgendwann, dass irgendwas irgendwie nicht stimmt. Oben war schon von Gehschwächen und Fehlsichtigkeiten zu lesen. Weiter unten wird der Autor berichten, wie er während einer Reise plötzlich das rechte Bein nur noch wenige Zentimeter weit heben konnte. Eine Freundin von ihm merkte auf ziemlich bizarre Art, dass Teile ihrer Wahrnehmung gestört waren. Zu ihrem Frühstück gehörte jeden Morgen eine Banane. Eines Tages schmeckte die nicht mehr nach Banane, sondern nach Zitrone. Die weißen Blutkörperchen hatten ihre Geschmacksnerven attackiert.
Fast niemand geht mit seinen Symptomen gleich zum Neurologen. Keiner nimmt ja zu Beginn an, dass er an MS leidet – sondern an Kreis­laufstörungen, an Hautreizungen oder Blasenschwäche, an Missempfindungen, leichten spastischen Zuckungen oder etwas ganz anderem. Man findet sich also in Wartezimmern von Augenärzten und Orthopäden, von Internisten und Urologen.
Haben die Fachärzte einen Anfangsverdacht, beginnt eine umfangreiche, nicht besonders angenehme Diagnostik beim Neurologen. Mindestens drei Verfahren werden dabei auf jeden Fall angewandt.
Erstens Reflextests. Stand- und Gangproben werden durchgeführt, Reflexe am Knie, an der Bauchhaut und am Fuß überprüft. Es wird die Zielgenauigkeit ermittelt, mit der man bei geschlossenen Augen mit dem Finger die Nasenspitze trifft.
Erhärtet sich dadurch der Anfangsverdacht, müssen mit zwei weiteren Diagnosetechniken andere Krankheitsursachen ausgeschlossen werden.
Zur MRT (»Magnetresonanztomographie«) wird der Patient in eine Röhre geschoben und mit Magnetfeldern beschossen. Die bilden den Körper in Millimeter dünnen Scheiben ab, so dass genau ermittelt werden kann, wo die Vernarbungen im Hirn oder Rückenmark liegen. Dieses Verfahren ist völlig schmerzfrei, löst aber dennoch bei vielen Patienten Unwohlsein aus. Wer liegt schon gern eine halbe Stunde lang in einer engen Röhre, die Ohren mit einem Gehörschutz gegen den Lärm versehen, den der beschriebene Beschuss des Körpers mit Magnetfeldern verursacht?
Leider noch unangenehmer ist die Lumbalpunktion (LP), mit der das Nervenwasser untersucht wird. Eine Hohlnadel wird wie eine Spritze in den unteren Rückenmarkskanal eingeführt, um Wasser zu entnehmen. Da das Rückenmark weit über den Lendenwirbeln endet, besteht keine Lähmungsgefahr. Weil aber Rückenmarksflüssigkeit und Hirnwasser zusam­mengehören, kommt es manchmal in den ersten Tagen zu einer Hirnwasserabsenkung. Das Gehirn drückt dann von oben auf die Schläfenknochen, was ziemlich heftige Kopfschmerzen erzeugt. Andererseits gibt es wohl neben der LP kaum eine andere Untersuchung, nach der einem der Arzt empfiehlt, gegen die Nebenwirkungen ordentlich viel Kaffee zu trinken.
In einigen Fällen wird die Diagnose noch ergänzt durch eine Kernspintomographie, bei der der Körper in einer weiteren, aber kürzeren und geräumigeren Röhre mit Röntgenstrahlen beschossen wird. Und eventuell durch eine VEP (»visuell evozierte Potentiale«), für die man Elektroden auf die Kopfhaut geklebt bekommt, um zu ermitteln, ob die Reizleitung zwischen Auge und Gehirn in normalem Tempo vonstatten geht.
Dass eine so komplexe Krankheit wie Multi­ple Sklerose schwer zu behandeln ist, liegt auf der Hand. In den letzten Jahrzehnten entwickel­te die Schulmedizin zwei Präparate, die heute zusammen die Grundpfeiler der Therapie bilden. Bei akuten Schüben wird der Kranke in der Regel stationär im Krankenhaus mit Cortison behandelt. Cortison ist ein effektives, aber unspezifisch wirkendes Medikament gegen jede Art von Entzündungen. Es verkürzt den Schub, kann aber wegen der erheblichen Nebenwirkun­gen nicht dauerhaft eingesetzt werden. Dem Patienten drohen u.a. Magenentzündungen, Blut­hochdruck und Diabetes. Außerdem macht Cortison das Gewebe mürbe, so dass bei körperlicher Belastung Muskelrisse und Knochenbrüche drohen.
Daher kommt in der längerfristigen Behandlung seit den neunziger Jahren der Wirkstoff Interferon zum Einsatz. Dabei handelt es sich um ein körpereigenes Gewebehormon, das vor allem von weißen Blutkörperchen entwickelt wird und eine immunstimulierende Wirkung hat. Im Kampf gegen die MS wird zumeist das modifizierte, auf gentechnischem Weg hergestellte Beta-Interferon eingesetzt, das sich der Patient in der Regel mehrfach wöchentlich selbst unter die Haut spritzt. Auch bei Inter­feron kann es zu Nebenwirkungen kommen, z.B. zu seelischen Störungen oder Gewichtsschwankungen. Vor allem aber ist die Therapie nur bedingt erfolgreich. Die heute gängigen Mittel setzen die Schubhäufigkeit um ca. 30 Prozent herab. Wenn alle Jahre wieder ein neues Wunder­mittel angekündigt wird, dann hoffen die Produzenten insgeheim darauf, dass die Wirksamkeit sich auf 35 oder 40 Prozent erhöht. Dass die Interferonbehandlung unter diesen Umstän­den nicht stärker umstritten ist, sagt auch etwas über die Marktmacht der Pharma-Industrie aus. Die Behandlung eines MS-Kranken mit Interferon kostet die Krankenkassen pro Monat 1 000 bis 1 400 Euro. Dass angesichts dieser zu verdienenden Summen alle Alternativmediziner, die mit anderen Methoden arbeiten, zu Scharlatanen oder zumindest zu Außenseitern erklärt werden, ist nicht weiter verwunderlich.
Zusehends mehr an Bedeutung gewinnt in den letzten Jahren die »Traditionelle Chinesische Medizin« (TCM), die mit Akupunktur und pflanz­lichen Medikamenten (z.B. individuell gemischte Tees) arbeitet. Nach der Vorstellung der TCM entstehen Krankheiten durch Störungen im Fluss der körperlichen Energie oder in den körperlichen Strukturen durch Einwirkung äußerer und innerer krankmachender Faktoren, die zu Einlagerungen und Blockaden führen. Einfacher formuliert: Der Schulmediziner geht – ähnlich wie der Mechaniker – davon aus, dass defekte Teile im Körper repariert und notfalls ausgetauscht werden müssen. Der TCM-Arzt versucht, das gesamte System umzuprogrammieren.
Obwohl mittlerweile sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch etliche kassenärztliche Vereinigungen die TCM als gleichwertige Behandlungsmethode anerkennen, wird sie in Deutschland nur von wenigen privaten Krankenkassen getragen – ein Problem für viele Interessierte, da z.B. eine Teemischung leicht 100 Euro pro Monat kosten kann.
Die Anzahl der Behandlungsmethoden ist mitt­lerweile fast so zahlreich wie die Ausprägun­gen der Krankheit. Es gibt Patienten, die sich regelmäßig in künstlich erzeugte Magnetfelder legen. Wieder andere lassen sich Präparate wie Immunglobuline spritzen, die die Forschung nicht weiterentwickelte, weil ihre Wirksamkeit umstritten ist. Und dann gibt es welche, die ein­zig auf eine gesunde, disziplinierte Lebensführung setzen, ohne Alkohol und Nikotin, mit viel Sport und strikten Ernährungsplänen.
Man kann sagen, dass Patienten neben ihrer Krankheit auch gleich die Lebensaufgabe bekommen, wie sie mit ihr umgehen. Im Folgenden werden nun drei Erkrankte, die alle ihren Weg abseits der gängigen Interferontherapie ge­funden haben, darüber berichten, wie ihr Leben mit der Multiplen Sklerose aussieht.

Anmerkung für Interessierte: Sorgsam zusammengetragene, allerdings sehr schulmedizinlastige Grundinformationen über die MS und Selbsthilfegruppen findet man unter www.dmsg.de, der Seite der »Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft«. Informationen über TCM gibt es bei www.tcm.edu

»Genieße jeden Tag.«

Dagmar, 37 Jahre.Diagnose: 2002

Irgendwann im Mai 2002 raspelte ich mir bei der Pediküre den rechten kleinen Zeh auf. Blut floss, aber ich habe nichts gespürt. Kurze Zeit danach bekam ich eine taube Stelle am rechten Oberschenkel, die von Tag zu Tag größer wurde, bis sie den ganzen Schenkel umfasste. Ich konnte mich normal bewegen, und trotz der Taubheit war mein Bein nicht gefühllos. Kaltes Wasser oder auch Berührungen taten sogar richtig weh. Da bin ich zu meiner Ärztin gegangen. Meine Vermutung war, dass durch die Verletzung am Zeh eine Entzündung entstanden ist. Die Ärztin sagte aber, das sei unmöglich, und schickte mich zu einer Neurologin.
Die Diagnostik mit MRT und Computertomographie hat mir zunächst keine Angst gemacht. Damals war ich Kinderkrankenschwester und kannte natürlich alle diese Verfahren. Mitten in den Untersuchungen bin ich mit meinem Mann und meinen beiden Kindern sogar in den Urlaub gefahren. Als während dieser Zeit die Taubheit verschwand, wollte ich die Lumbal­punk­tion absagen, deren Termin schon abgemacht war.
Die Neurologin riet mir, dennoch zu gehen. »Sie haben einen Vulkan im Kopf, der jederzeit ausbrechen kann«, sagte sie. Zum ersten Mal wurde mir seltsam zumute. Dann bestätigte die Lumbalpunktion den Verdacht der Ärzte. Ich hatte MS. Die Anzahl der Entzündungsherde war gering, aber der Befund eindeutig. An einem Freitag war das.
Meine Psyche klappte komplett zusammen. Das Wochenende zuhause möchte ich in meinem ganzen Leben nicht noch einmal erleben. Als nachts das kleinere der Kinder schrie, dachte ich: »Und was ist, wenn ich jetzt nicht mehr aufstehen kann? Wenn ich gelähmt bin? Was wird aus den Kindern?« Den Kleinen habe ich noch beruhigt, aber dann begann der Horror: Ruhepuls 220. Zwei Mal kam der Notarzt, zwei Mal hat mein Mann mich zur Klinik gebracht. Am Ende des Wochenendes war ich in der Krisenstation des Moabiter Krankenhauses, wo ich einige Tage blieb und sie mich auf ein Antidepressivum einstellten, um mich runterzukriegen.
Die Neurologin empfahl mir Medikation und überwies mich an Prof. Dr. Judith Haas ins Jü­dische Krankenhaus Berlin, die eine ziemliche Koryphäe auf dem Gebiet der MS ist. Zufällig hatte Dr. Haas gerade eine Studie laufen, in der die Wirksamkeit von Immunglobulinen getestet wurde. Die kannte ich schon von meiner Arbeit in der Kinderstation, wo sie bei Auto­im­mun­­krank­heiten angewendet werden. Immunglobuline sind Eiweiße, die vom Abwehrsystem des Körpers gebildet werden, um fremde Substanzen anzugreifen. Man hat die sowieso im Körper, und bei der Therapie wird im Prinzip nur deren Konzentration im Körper angereichert. Also sagte ich zu und war für ein Jahr in einer Dreifach-Blindstudie. Mir ging es gut; erst später habe ich erfahren, dass ich in der Placebogruppe war und eigentlich nur Zuckerwasser in die Vene bekommen hatte.
Trotzdem bin ich bis heute bei diesem Medika­ment geblieben. Obwohl es von den Kassen eigentlich gar nicht mehr bezahlt wird, fand ich einen Arzt, der es mir weiter verschreibt. Alle vier Wochen lege ich mich für anderthalb Stunden an den Tropf.
Die Krankheit ist damit natürlich nicht verschwunden. Es ist ja bekannt, dass MS eine star­ke psychische Komponente hat. Bei mir äußert die sich darin, dass ich unter Stress viel schlech­ter funktioniere als früher. Wenn ich zum Beispiel mehrere Sachen gleichzeitig machen will und dabei vielleicht auch noch der Fernseher oder das Radio laufen und meine Kinder was wollen, dann verschwimmen die Dinge in meinem Kopf. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren und die Dinge auch nicht mehr ordnen. Dinge zu lernen, fällt mir viel schwerer als vor der Diagnose.
Richtige Schübe hatte ich in der Zwischenzeit auch. Im Frühjahr 2007 bekam ich Doppelsichtigkeiten und wurde extrem lichtempfindlich, so dass ich mich mehrere Tage lang mit Cortison behandeln lassen musste. Sieben Monate lang war ich danach krankgeschrieben. Und als vor wenigen Jahren mein Vater starb, nahm mich das so mit, dass ich mitten im Urlaub einen Krampfanfall erlitt.
Über meine Krankheit habe ich viel nach­gedacht und muss heute sagen: Natürlich wollte ich sie nicht haben. Doch ich bin für vieles dankbar, was sie an Veränderungen in mein Leben gebracht hat.
Früher war ich ein Mensch, bei dem immer alles hundertprozentig sein musste. Bei der Arbeit, bei der Kindererziehung, in der Wohnung. Wie viele Wochenenden mein Mann und ich uns wegen der Putzerei versaut haben! Ich habe eigentlich immer für andere gelebt. Vor der Diagnose konnte ich keinen um Hilfe bitten. Sogar in der Freizeit stand ich noch unter Leistungs­druck. Im Sportstudio habe ich nur Powerkurse gemacht. Das ist heute anders. Ich bin jetzt krank, und ich habe das Recht, eine Pause zu machen, wann immer ich sie brauche. Ich versuche, jeden Tag zu genießen.
Wenn ich Krankengymnastik habe oder Yoga, dann ist das eben so. Dann müssen die Kinder mal für ein paar Stunden allein klarkommen. Mein Mann hat anfangs gemeckert, so in der Art: »Wir haben doch sonst jeden Samstag die Putzarbeit erledigt! Warum denn plötzlich nicht mehr?« Mittlerweile findet er das auch gut, selbst wenn hier und da ein kleiner Fleck in der Wohnung zu sehen bleibt. Wer putzt schon gerne?
Als Kinderkrankenschwester arbeite ich nicht mehr. Aber ich bin immer noch im Krankenhaus. 16 Stunden pro Woche habe ich eine Stelle als Medizinische Dokumentationsassistentin. Ich helfe auf zwei verschiedenen Stationen bei der Verwaltung der Krankenakten. Wegen meiner Konzentrationsschwäche ist mir die Umschulung nicht leicht gefallen, aber seitdem sie überstanden ist, macht die Arbeit mit den Kolleginnen viel Spaß. Dass ich MS habe, wissen sie. Warum sollte ich es auch verheimlichen? Spätestens beim Umschulungsantrag wäre es ja sowieso bekannt geworden.
Das übrige Geld bekomme ich über eine halbe Rente. Meine Integrationshelferin sagt immer, dass ein Berufsleben wie meins laut der üblichen Vorgehensweisen gar nicht möglich ist. Aber meine Krankheit ist ja auch anders als die von jedem anderen. Warum soll es mein Leben nicht sein?

»Aufgeben gibt’s nicht.«

Jürgen, 48 Jahre.Diagnose: 1983

Es war Mitte 1983. Ich war als Baumaschinenschlosser beschäftigt. Mei­ne Arbeit bestand darin, Bagger nach Beendigung der Bandarbeit einzufahren. Ich testete die Funk­tionen, wechselte defekte Teile aus, nahm Einstellarbeiten vor. Der Schub kam für mich aus heiterem Himmel. Plötzlich konnte ich mich nicht mehr sicher auf dem Bagger bewegen. Ich hatte unerklärliche Gleichgewichtsstörungen, schwankte und stolperte beim Gehen, redete wie ein schwer Betrunkener. Auch meine Hände gehorchten mir nicht mehr, so dass ich kaum noch die Testberichte ausfüllen konnte. Aus Sicherheitsgründen schickte mich mein Chef nach Hause.
Mein damaliger Hausarzt empfahl mir einen Neurologen, der mich sofort in die Universitätsklinik Charlottenburg überwies. Eine Woche lang wurde ich dort untersucht. Über MS war damals viel weniger bekannt als heute, und auch das MRT wurde noch nicht angewendet. Also entnahm man mir Nervenwasser und unterzog mich einigen motorischen Untersuchungen und Reflextests. Jede Nacht habe ich vor dem Einschlafen gebetet, dass es nicht MS ist. Dann bekam ich die Diagnose.
24 Jahre alt war ich damals und hatte große Angst vor dieser Krankheit. Vier Monate lang war ich krankgeschrieben und saß zuhause. In­ter­feron gab es damals noch nicht, also bekam ich von meinem Neurologen hoch dosiertes Vi­ta­­­min B. Statt einer Pille schluckte ich immer fünf. Schlimm fand ich auch, dass die Ärzte mir Sport­verbot aussprachen. Seit meiner Kindheit hatte ich viel Sport getrieben, war Fußballer und Boxer gewesen, und seit 1979 bis heute bin ich Fitness-Kraftsportler. Damals war die gän­gige Meinung zu Sport bei chronischen Krankheiten völlig anders als heute. Man sollte sich schonen und den Körper so wenig wie möglich belasten. Immerhin: Zwei Jahre nach dem Schub hob mein Arzt das Sportverbot auf. Gleich am nächsten Tag hatte ich wieder eine Hantel in der Hand.
Ich versuchte, mich über meine Krankheit zu informieren, so gut es ging. Auch das war schwie­riger als heute, wo jeder einen Internetanschluss hat. Zeitschriften, Lexika, Aufsätze aus der Bücherei – was mir in die Finger kam, wurde gelesen.
Aus Angst vor der Krankheit wollte ich sie damals einfach nicht wahrhaben. Über 20 Jahre fand ich immer neue Ausreden, warum nicht die MS, sondern andere Dinge für meinen Zustand verantwortlich waren.
Rund drei Schachteln rauchte ich Anfang der achtziger Jahre jeden Tag. Klar, die waren schuld daran, dass ich mich nicht richtig konzentrieren konnte und starke Lernschwierigkeiten bekam. Warum es nicht besser wurde, als ich aufhörte, verdrängte ich. Schon mit Anfang 20 war meine Wirbelsäule von der schweren Schlosserarbeit angegriffen. Deshalb die Schwie­rigkeiten beim Gehen, so die nächste Erklärung. Eigentlich hangelte ich mich von einer Ausrede zur nächsten. Einmal gab ich sogar einer neuen Silberkette die Schuld dafür, dass ich wochenlang am ganzen Körper Juckreiz und nadelstich­artige Schmerzen hatte. Sagte mir hingegen jemand auf den Kopf zu, dass ich MS habe, wurde ich so böse, dass der andere sich zurückzog. Manche hatten wahrscheinlich einfach Angst, verprügelt zu werden. Ich bin 1,88 Meter groß, wiege um die 90 Kilo und bin drei Mal pro Woche im Fitness-Studio. Klar ist das ein Argument, sich nicht mit mir zu streiten.
Irgendwie kam ich mit dieser Einstellung durch die nächsten zehn, fünfzehn Jahre. Wahrscheinlich hatte ich einige kleinere Schübe, aber die wollte ich einfach nicht sehen.
1999 bekam ich meinen zweiten schweren Schub. Ich konnte kaum gehen und hatte das, was MS-Kranke »Handschuhe« nennen. Die Hände werden so gefühllos, als hätte man drei Nummern zu kleine Handschuhe an. Wenn ich etwas unterschreiben sollte, musste ich Stift und rechte Hand mit der linken Hand übers Papier führen. Mein neuer Neurologe, der leider mitt­lerweile gestorben ist, brachte mich dazu, mein Leiden neu zu sehen. Er sagte, dass ich ein Kopf­mensch bin, der sich über alles und jeden seine Gedanken macht und nie abschalten kann. Tatsächlich liege ich manche Nacht wach, weil die Gedanken nicht aufhören zu kreisen. Das ist schlecht bei MS. Langsam fiel mir auf, dass mei­ne Schübe oder Symptome immer dann ge­kom­men waren, wenn ich mich in neuen Le­bens­situationen befunden hatte. Bei meinen Um­schu­lungen zum Industriekaufmann und zum Lehrer für Sportreha zum Beispiel, oder nach geschäftlichem Pech mit meinem eigenen kleinen Fitness-Laden.
Richtig akzeptiert habe ich meine Krankheit aber erst im Herbst 2006, 23 Jahre nach der Diagnose. Da machte ich eine Kur. Der Austausch mit den anderen Patienten hat mir nicht besonders viel gebracht. Die klagten mir zu viel, und irgendwie hatten sie sich schon mit der Krankheit abgefunden. Außerdem rauchten und soffen die dauernd. Aber ganz plötzlich, nach einem Gespräch mit der dortigen Psychologin, verstand ich, was mein Neurologe mir schon Jahre vorher gesagt hatte. »Denken Sie so oft wie möglich: L.M.A.A! Das ist nicht besonders fein, aber das wird Ihnen helfen.«
Das versuche ich seitdem. Die Dinge nicht mehr so an mich rankommen zu lassen. Letztes Jahr bin ich verrentet worden. Rentner mit 47, auch kein schönes Gefühl.
Aber eigentlich ist das auch richtig, denn jeden Tag voll arbeiten könnte ich gar nicht mehr. Mein Motto lautet: Aufgeben gibt’s nicht. Dafür ist das Leben viel zu schön. Immer noch bin ich drei Mal pro Woche im Fitness-Studio, und auch bei mir in der Wohnung stehen ein paar Geräte rum. Um mich geistig fit zu halten, lese ich viel. Vor einiger Zeit habe ich mein Interesse an Fremdsprachen entdeckt. Jetzt büffele ich nach Lehrkassetten. Erst mal Englisch, aber die für Französisch und Spanisch liegen auch schon bei mir auf dem Küchentisch.
Am liebsten möchte ich wieder als Trainer arbeiten. Für ein, zwei Stunden täglich. Mehr geht leider nicht. Vielleicht finde ich ja was Ehrenamtliches. Nicht für 20jährige, die so schnell wie möglich dicke Arme bekommen wollen und dafür alles Mögliche spritzen oder schlucken würden. Sondern für Ältere, für chronisch Kranke oder für Leute mit Gehbehinderungen. Ich will nicht angeben, aber für solche Leute würde man schwer einen besseren finden als mich.

»Verliere deinen Traum nicht aus den Augen.«

Knud, 42 Jahre.Diagnose: 2003

Ich schreibe diesen Text mit Resten eines blauen Auges im Gesicht. Neulich bin ich beim Verlassen eines Theaters die Trep­pe hinabgestürzt. Das gezeigte Stück war so mies, dass mindestens ein Fünftel der Zuschauer schon zur Pause ging. Alle waren ziemlich sauer, die Treppe war ziemlich schmal und ziemlich steil. Da verlor ich das Gleichgewicht. Ich konnte gerade noch ins Geländer greifen, so dass ich nicht mit dem Kopf, sondern mit den Füßen zuerst stürzte und auf dem Rücken nach unten rutschte. Leider knallte ich dabei mit dem Kopf gegen die Wand. Daher das blaue Auge.
Dieser Sturz ist typisch für die Schäden, die meine MS mir zugefügt hat. Wenn zu viele Au­ßen­eindrücke auf mich einwirken oder wenn ich emotional sehr bewegt bin – egal ob negativ oder positiv –, dann schalten sich Teile meiner motorischen Fähigkeiten kurzfristig ab. Da ich seit Jahren nicht mehr gut gehen kann – und seit vergangenem Sommer für längere Strecken einen Stock dabei habe – verliere ich in solchen Überforderungssituationen die Kontrolle über das Gleichgewicht und stürze. Manch­mal verzichte ich tageweise darauf, das Haus zu verlassen, und bei Spaziergängen sollte es längs der Strecke die eine oder andere Bank geben. Außer­dem sollte ich die Hitze meiden, vor allem die von innen – bei Fieber ist es mir schon passiert, dass ich ins Badezimmer kriechen musste. Dass es unter all diesen Umständen zumindest erstaunlich ist, dass ich als Reisejournalist und Drehbuchautor arbeite, weiß ich. Aber ich mag nichts daran ändern.
Diagnostiziert wurde die Krankheit im Sommer 2003. Schon bei einer Reise durch Portugal einige Monate zuvor konnte ich plötzlich mein rechtes Bein nur noch zwei Zentimeter weit heben, was in einer Stadt wie Lissabon, die ausschließlich aus Hügeln, Treppen und Kopfsteinpflaster zu bestehen scheint, zum üblen Gehumpel wurde. Ich glaubte, an einem Stresssymptom zu leiden. Kurz vor der Reise hatte ich mich wegen künstlerischer Differenzen von einer Filmgesellschaft getrennt und war der festen Überzeugung, einen qualvollen Hungertod sterben zu müssen.
Zurück in Berlin ging ich zu meiner Orthopädin. Die überwies mich an einen Neurologen am Potsdamer Platz. Nach wochenlanger Diagnostik bekam ich im August in dessen Praxis das Ergebnis. Die nächste Stunde saß ich auf einer Mauer zwischen den Hochhäusern. Zwischen mir und der Welt war Glas. Oder Sülze. Irgendwas Durchsichtiges jedenfalls, was mich von der übrigen Welt trennte.
Die nächsten Tage waren voller Gespräche mit meiner Freundin, einem befreundeten Psychiater und einer Kollegin, die sich nebenbei als Heilpraktikerin hatte ausbilden lassen. Sie hielten mich davon ab, dem Rat des Neurologen zu folgen – mich nämlich gleich in eine Studie über die Wirksamkeit eines neuen Interferon-Präparats aufnehmen zu lassen. Wofür ich ihnen bis heute dankbar bin.
Der Psychiater vermittelte mich an die Ärztin, bei der ich bis heute in Behandlung bin. Sie praktiziert nach der Traditionellen Chinesischen Medizin und stellte mich auf eine individuelle Teemischung ein. Die ich nicht nur selbst zuhause aufkochen, sondern leider auch selbst bezahlen muss.
Wenige Tage später tat ich etwas, was einer kurzen Erklärung bedarf: Mitte der neunziger Jahre war ich nasser Alkoholiker und verbrachte etliche Monate in Entgiftungen und Psychiatrien. Während des Trockenwerdens hatte es mir geholfen, mir meine Sucht physisch vorzustellen. Ihr zu sagen: »Saufen werde ich nicht. Du willst doch nur, dass ich wieder ohnmächtig in der Ecke liege. Also, was willst du eigentlich wirklich von mir?« Dass das irre klingt, weiß ich. Aber es hatte mir die Kraft gegeben, rückfallfrei zu bleiben. Und den Mut, endlich ausschließlich als freier Autor zu arbeiten.
Nun war also eine neue Krankheit da. Da ich anfangs natürlich nicht wusste, wie schnell sie voranschreiten würde, befragte ich auch sie. Danach machte ich mir eine Liste der Sachen, die ich in meinem Leben noch erreichen wollte. Wovon ich träumte. Einen Roman schreiben, stand darauf. Noch einmal einen Fuß auf jeden Kontinent setzen. Und meinen Namen auf einem Kinoplakat sehen.
So hochtrabend diese Ziele auch schienen, sie hatten einen Vorteil: Zeit zum Verzweifeln ließen sie nicht. Zwei Wochen später, der Schub war noch gar nicht ganz vorbei, nahm ich den nächsten Reiseauftrag an. Zehn Tage Kanada. Im Tipi leben mit einheimischen Indianern. Meine Freundin gestand mir Jahre später, dass sie fast vor Angst gestorben wäre.
Diese Träume habe ich nie aus den Augen verloren. Wenn nachts die Verzweiflung kam, wenn mir Bürgersteige wie Canyons erschienen, wenn ein kleiner Streit mit der Freundin, eine heiße Dusche oder ein starker Kaffee dazu führten, dass ich mich eine halbe Stunde lang an Wänden abstützen musste – immer war ich auf dem Weg zum nächsten Ziel. Das half unglaublich. Auch dabei, mir viele neue Verhaltens­weisen anzugewöhnen.
Vier bis fünf Stunden Fitnesstraining und Gymnastik pro Woche, um mir meine Gehfähig­keit solange wie möglich zu erhalten, sind nicht immer ein Spaß. Chinesischer Tee kann ganz schön mies schmecken. Tägliche Meditation, tägliche Tagebuchnotizen können sehr langwei­lig werden. Außerdem gehört zu meinen Prinzipien, dass immer genug Geld für meine Medizin auf dem Konto sein muss – und für Notfälle und schlechte Tage immer genug Geld fürs Taxi nach Hause in meiner Tasche. Klar, dass ich dafür manchmal auch Aufträge annehmen muss, die mir Geld, aber weder Spaß noch Anerkennung bringen.
Trotzdem mache ich das alles. Und irgendwie bin ich auch stolz darauf, wenn meine Ärztin sagt: »Für Menschen wie Sie wurden Behinderten-Olympiaden erfunden.«
Immerhin habe ich in den letzten Jahren vier Kontinente besucht. Die Sache mit dem Kinoplakat hat auch geklappt; für den Roman gibt es noch dieses Jahr einen Abgabetermin. Langsam überlege ich mir, welche Ziele ich mir als nächste stecken soll. Vielleicht sollte ich mal wieder mit meiner MS reden.