Viren, Aliens und verpasste Chancen
Gesellschaftskritiken auf Papier sind passé. Um den ganzen Irrsinn einer an allen Rändern ausfransenden Gegenwart adäquat zu beschreiben, braucht es Bässe, eine gutturale Stimme und viel Echo. Steve Goodman aka Kode 9 und Spaceape Stephen Samuel Gordon haben auf »Memories of the future« Bilanz gezogen und über gut 50 Minuten ein Spoken-Word-Dubstep-Gemälde unserer zukünftigen Gegenwart entworfen. Bässe ventilieren durch verlassene Gassen, Echos von stillgelegten Synthesizern mäandern durchs Klangbild, und Spaceape spricht mit tiefer, ausgeruhter Stimme über Viren, Aliens und verpasste Chancen. Im Hintergrund säuselt sehnsüchtig ein Harmonium. Das ganze Klangkonstrukt federt gemächlich im Dub-Swing dahin.
Gordons Texte gehen aus distanzierter Warte mit der Menschheit ins Gericht, kultivieren eine manchmal beängstigende Endgültigkeit und werden doch, rein stimmlich, sanft vorgetragen. Eine alttestamentarische Patina liegt wie Flugrost auf den eingedampften und dadurch höchst effektiven Dub-Installationen von Kode 9. So entsteht ein brandneues Modell, das schon mit Rostflecken ausgeliefert wird – »Memories of the future« eben. Stärker noch als die im Frühjahr veröffentlichte CD »Burial« von Burial, ist diese CD als Schlüsselwerk innerhalb des Dubstep-Kosmos zu sehen, erlöst sie doch den Sound vom ewigen 12"-Track-Dasein in Süd-Londoner und mittlerweile auch Berliner Clubs. Auf Albumlänge kommen die narrativen Qualitäten des Dubstep voll zur Geltung. Verwandtschaften zu frühen Drum’n’Bass-Tracks von Photek und Source Direct und der Dub-Poetry von Linton Kwesi Johnson klingen an, werden auf 33 rpm heruntergepitcht und in ein eher kathedralenhaftes Klangbild überführt.
Steve Goodmans Label Hyperdub ist die derzeit wohl verlässlichste Quelle für diesen Futuresound. Als DJ ist er auf dem Londoner Piratensender Rinse FM zu hören.
hans-jörg fröhlich
Kode 9 & Spaceape: Memories of the Future. Hyperdub