Hochkonjunktur bei Sondersendungen

Alle mal herhören

Sondersendungen zu havarierten Bussen, brennenden Fernsehtürmen, sinkenden Flotten - bei ARD und ZDF sitzen alle in einem Boot. Über den Quotenerfolg des Katastrophen-Specials.

Wenn früher ein Schiff unterging oder ein Zeppelin explodierte, druckten die Zeitungsverlage sofort Sonderausgaben und schickten ihre Verkäufer damit auf die Straße. Heute gibt es für solche und ähnliche Fälle Sondersendungen wie den »Brennpunkt« der ARD und das »ZDF-Spezial«. Ob es um vorhersehbare Ereignisse wie eine Sonnenfinsternis oder um plötzlich auftretende Wirbelstürme, Massenkarambolagen oder Entführungen geht - Sondersendungen sind ein Quotengarant. Im Juli und August dieses Jahres lagen die »Brennpunkte« zum Untergang der »Kursk«, zum Bombenanschlag in Düsseldorf, zur Boeing-Notlandung in Wien und zum Absturz der Concorde insgesamt achtmal an der Spitze der täglichen Quotentabelle.

Die Produktionskosten für dieses Format sind gering. Oft werden Einspielungen wiederholt, die Minuten vorher in der Hauptnachrichtensendung zu sehen waren, oder es wird Filmmaterial versendet, das es nicht in die »Tagesschau« geschafft hat. Noch ein paar Schnitte auf die Unglücksstelle, ein paar zusätzliche Bilder von Überlebenden, die Langfassung eines Experten-Interviews, ein paar zusätzliche Augenzeugenberichte: »Ich hörte einen Knall und dachte, da ist etwas passiert.« Eine erhellende Computersimulation, die die letzte Kurve des abstürzenden Fliegers oder die Karambolage zweier U-Boote beschreibt, fertigen die zuständigen Abteilungen in Minuten an; eine Chronik schwerer Busunglücke und Schiffshavarien der letzten 17 Jahre ist rasch aus dem Archiv gezaubert.

Ein Muss ist der Experte im Studio; das kann ein längst pensionierter deutscher Schiffskoch sein, der bekräftigt, die russische Marine sei in einem desolaten Zustand, oder der Präsident eines Pilotenverbandes, der zwar zugibt, selbst nie eine Concorde geflogen zu haben, aber weiß, dass man die offiziellen Untersuchungen abwarten müsse, um die Absturzursache zu kennen. Gut macht sich immer auch ein Telefonat mit dem zuständigen Minister, der rasche und unbürokratische Hilfe für Überlebende und Angehörige in Aussicht stellt.

Im Februar 1996 klagte ein wütender Kommentator in der taz über einen »Brennpunkt« zum Absturz eines vor allem mit deutschen Urlaubern besetzten Jets in der Karibik. Überschrift: »Da lacht der Quotenmann«. Der Kommentator wollte unbedingt wissen, »welchen Informationswert weinende Angehörige haben, die von TV-Crews an deutschen Flughäfen abgefangen werden«, und »welche Nachrichten man damit übermitteln will, wenn fassungslose Menschen ihr Entsetzen in ein Mikrofon stammeln«. Hier muss ein Missverständnis vorliegen. Auch die Programmchefs der öffentlich-rechtlichen Sender setzen im Bereich der aktuellen Berichterstattung längst und ganz offiziell auf Sendeformate, die die Trennung zwischen Information und Unterhaltung aufheben. Nachrichten vom Boulevard, unterlegt mit gefühligem Human Touch und Lifestyle.

Erst vor wenigen Tagen verkündete das ZDF, das politische Magazin »Kennzeichen D« werde durch ein »zeitkritisches Magazin« mit vielen bunten Einsprengseln aus Mode, Sport und Wellness ersetzt. Außerdem denkt man in Mainz seit längerem daran, das »heute journal« in eine einstündige News-Show nach US-amerikanischem Vorbild umzumodeln.

Wenn es um Infotainment geht, um Katastrophen, Terror und Tragödien, besitzen ARD und ZDF einen seltenen Vorteil gegenüber den Privaten. Ihr weit verzweigtes Korrespondentennetz erlaubt eine rasche Präsenz vor Ort, und das bloße Herumstehen des Reporters am Schauplatz des Geschehens bürgt schon mal für Authentizität.

Wichtiger noch: Weil die öffentlich-rechtlichen Anstalten in den Augen der Zuschauer ungleich stärker für »Seriosität« stehen als die privaten Anbieter, bestimmen ARD und ZDF, was eine Katastrophe ist. In diesem Sinne verdankt sich die Inflation der Sondersendungen in den vergangenen Monaten nicht nur dem Zufall und der nachrichtenarmen Sommerzeit, sondern einem ziemlich skrupellosen Ausnutzen der eigenen Autorität. Ereignisse, die nach nachrichtlichen Kriterien bestenfalls zur Kurzmeldung in der Rubrik »Vermischtes« taugen, werden neuerdings in Specials abgehandelt, etwa der Brand im Moskauer Fernsehturm (ZDF: »Fernsehturm in Flammen«) oder der Unfall eines mit deutschen Schülern besetzten Autobusses in Österreich (ARD: »Todesfahrt ins Ferienlager«).

Noch ein Novum: das Special im Anschluss an das Special. So zeigte das ZDF die Fernsehturm-Sendung im Anschluss an eine Sondersendung zur Freilassung der Jolo-Geiseln; die ARD den »Brennpunkt« zum Busunglück im Anschluss an ein »Kursk»-Special - ohne Rücksicht darauf, dass das Format eigentlich den Anspruch der Exklusivität eines Themas formuliert. Wer so ein Doppel dennoch wagt, hat viel Vertrauen in den Katastrophenhunger des Publikums.

Warum schauen die Leute so gerne Sendungen, in denen es um Bedrohung, Tod und Unglück geht? In der Süddeutschen Zeitung hat neulich jemand versucht, ein paar existenzielle Dinge über Katastrophen-Berichterstattung zu formulieren: »118 Menschen sind gerade qualvoll in einem U-Boot ertrunken, 114 Menschen unlängst beim Absturz einer Concorde ums Leben gekommen - und das einzige, woran sich unser Entsetzen im ersten Moment einhakt, sind diese Zahlen. (...) Was die 'Kursk' und die Concorde angeht, handelt es sich bei der Anzahl der Opfer um Primzahlen: der Schrecken ist nicht teilbar, das Mitgefühl lässt sich nicht dividieren, die Ereignisse lassen sich nicht in einzelne Schicksale zerlegen. In den Sekunden des Unglücks verschmelzen die Opfer zu einer Masse, und keine Vorstellungskraft reicht aus, den Moment selbst zu durchdringen.« Es sei letztlich so, »dass vor solchen Katastrophen alle Erklärungsversuche versagen, dass daran alle Vermutungen über den Hergang abprallen, alle Rationalisierungen verpuffen«.

Das ist klassische Theologie und deshalb kompletter Unfug. Erstens handelt es sich bei 114 und 118 nicht um Primzahlen. Zweitens besteht der TV-öffentliche Umgang mit Unglück und Terror gerade in dem Kniff, die insbesondere bei Trauerfeiern gerne bemühte »Unfassbarkeit« der Katastrophe zu dekonstruieren. Das Gesamtereignis wird in einzelne Aspekte gegliedert, die dann von Experten analysiert werden. Was war mit der Technik? Was mit der Wartung? Mit der Ausbildung der Piloten? Ist den Marineoffizieren zu trauen? Hat der Busfahrer die Lenkzeiten eingehalten? Taugen die Autobahnen etwas? Waren die Rettungskräfte schnell genug? Hat es ähnliche Vorfälle in der Vergangenheit gegeben?

Einzelschicksale werden dabei durchaus sichtbar gemacht: In den Interviews mit Angehörigen werden sowohl die Opfer als auch die Hinterbliebenen zu Akteuren, sodass sich der Zuschauer mit ihnen identifizieren kann. »Mitgefühl« kann durchaus dividiert werden: Waren Deutsche an Bord? Deutsche Kinder gar? Deutsche unter den Geiseln? Leute aus unserer Stadt? Der Hergang wird rekonstruiert und visualisiert und damit verständlich; den Grusel des Augenblicks kennt das Publikum aus zahllosen Katastrophenfilmen, deren Titel so ähnlich klingen wie die der Fernseh-Specials: »Tod in der Tiefe«, »Drama im Nordmeer«. In der Fernsehberichterstattung begegnet dem Zuschauer die Katastrophe also keineswegs als das unsagbar-unerklärlich Tragische, sondern als einer der vielen bemerkenswerten und anrührenden Betriebsunfälle der Weltgeschichte. Auf eine gewisse, beruhigend ungefährliche Weise ist er sogar beteiligt, bricht doch die Sondersendung so plötzlich ins Feierabendprogramm ein wie das Wasser ins U-Boot.

Die Sondersendung macht dem Zuschauer aber zugleich ein neues Angebot. Mit ihrer Dramaturgie der knappen Zeit, mit Emblemen und Lalülala-Jingles tritt sie als eine Art Blut-Schweiß-Tränen-Appell auf: Achtung, das hier kommt von ganz oben, alle herschauen. Es ist wichtig und geht jeden an! Die explizite Aufforderung lautet, angesichts der identifizierten Bedrohung zusammenzurücken, mal national, mal global.

Eine wissenschaftliche Studie des in Bern ansässigen Marketing-Beratungsunternehmens Crusius Sa/Inc. hat kürzlich und keineswegs in kritischer Absicht noch einmal aufs neue festgestellt, dass gelungener »Boulevard« das »Verlangen nach Integration in ein gesellschaftliches Ganzes« bedienen muss: »Boulevard und Boulevard-Journalismus arbeiten auf der Seite des Rezipienten nicht nach logischen, intellektuellen oder vernünftigen Maßstäben (...). Die Publikumsbindung an das gedruckte oder TV-vermittelte Boulevard-Medium erreichen die Produzenten durch stilistische Formen, die Wir-Gefühle und das Gefühl, zur Meinungsmehrheit zu gehören, stimulieren.«

Wenn das stimmt, und alles deutet darauf hin, dann hat diese Sorte Sondersendungen eine gute Zukunft. In ihrem Vorspann werden wir demnächst lesen: Der folgende Massenselbstmord wird Ihnen päsentiert von Krombacher. Warum auch nicht?