Ein Volk von Demokraten

Zehn Jahre nach dem Mauerfall: Die Entsorgung der Geschichte avancierte zum erfolgreichsten Projekt der deutschen Zivilgesellschaft.

Demokraten beider Länder, vereinigt euch! Auf diese Parole ließe sich zehn Jahre nach dem Mauerfall reduzieren, was Bürgerbewegte in Ost und West einander in die Arme trieb. Die einfache Botschaft des 9. November lautete: Keine Angst vor der neuen Republik, keine Sorge vor einem Vierten Reich - die Deutschen wollen nur normal sein, eine Nation wie jede andere auch.

Die Wiedervereinigung sollte, neben einem weiteren Wirtschaftswunder, vor allem eines bringen: die neue deutsche Zivilgesellschaft. Ein neues Deutschland, frei von der Vergangenheit, bereit für die zivilisatorischen Höhepunkte der Menschheit - Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheit.

Als Wegbereiter dafür gaben sich im Westen vor allem die Grünen aus. Die Rebellion von 1968 gegen die Nazi-Generation habe das Land in eine zivile Republik verwandelt, meinten schon vor zehn Jahren diejenigen, die heute an der Spitze der Nation stehen.

Nazis, Rechtsradikale und Ewiggestrige sind zwar weiterhin existent. Wahrgenommen jedoch werden sie von den Apologeten der Zivilgesellschaft lediglich als unangenehme Begleiterscheinungen, die jede bürgerliche Demokratie als pathologische Entgleisungen in Kauf zu nehmen hat. Die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer mag da nur als ein Beispiel unter vielen herhalten: Ihrem schon 1995 geäußerten Wunsch, bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft vorstellig zu werden, kamen die Vertriebenen zwar erst ein Jahr später nach. Der Integration auch des letzten Revisionisten ins grüne Projekt Zivilgesellschaft aber stand nach dem geglückten Antrittsbesuch Vollmers dann nichts mehr entgegen.

Auf der andere Seite der Mauer waren es die "friedlichen Revolutionäre", die zur zivilisatorischen Mission der Nation antraten. In einem unheimlichen Akt der Selbstverklärung erklärten sich die ostdeutschen Revolutionäre selbst zu Agenten der Weltgeschichte: Jenseits der Elbe entsorgten sie den anderen Feind der Zivilgesellschaft, die stalinistische Parteidiktatur.

Dass auf den Trümmern der staatssozialistischen Gesellschaft die "national befreiten Zonen" des entfesselten Kapitalismus prächtig gedeihen konnten - zehn Jahre später ist diese Entwicklung nicht mehr der Rede wert.

Joachim Gauck, auf Geheiß der "Herbstrevolutionäre" und auf Drängen von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum ostdeutschen Festredner auf der amtlichen Gedenkfeier zum 9. November im Bundestag ernannt, verlor kein Wort darüber. Der Bundesbeauftragte für die Stasiakten und Ablassverwalter der längst auf den "Überwachungsstaat" reduzierten DDR sieht die Bürgerrechtsbewegung im Rheinischen Kapitalismus dort angekommen, wo sie immer hinwollte: "Wenn wir uns die Forderungen der Demokratiebewegung von '89 noch einmal anschauen, für die wir gekämpft haben, also die Bürger- und Menschenrechte, dann sind sie alle eingelöst."

"Im Kern", so Gauck, der mit seinem Auftritt neben Gorbatschow, Bush und Kohl zu so etwas wie dem ideellen Gesamt-Ossi avancierte, sei "nichts falsch gelaufen". Vielmehr seien von seinen eigenen Erwartungen in den vergangenen zehn Jahren "viel mehr eingelöst als enttäuscht worden". Fragt sich eigentlich nur, wo lebt der Mann? Spricht doch etwa der Rechtsextremismusforscher Bernd Wagner davon, dass man es in den von den "friedlichen Revolutionären" befreiten Gebieten mit einer "sehr stark verankerten völkischen Bestimmtheit" zu tun habe. Wer anders aussieht oder denkt, muss in der deutschen Provinz und in vielen Bezirken der großen Städte um sein Leben fürchten. Im Osten ist die No-go-area zum Regelfall geworden. "Im Kern nichts falsch gelaufen" also? Ein Volk von aufrechten Demokraten?

Schneller als die Mauer fallen konnte, wandelte sich die Parole der Montags-Demonstranten von "Wir sind das Volk" um in "Wir sind ein Volk". In eines zudem, das in Hoyerswerda und Rostock sein nationales Coming-out kaum völkischer zelebrieren konnte. Wenn in Deutschland nach Demokratie gerufen wurde, war eben schon immer die wahre Volksherrschaft gemeint - eindrucksvoller, als zwischen Rostock und Karl-Marx-Stadt seit 1989 geschehen, hätte man sich den nationalen Anschluss nicht vorzustellen gewagt.

Während die Bürgerrechtler um Gauck, Bärbel Bohley oder Vera Wollenberger die Nachwendezeit nutzten, um ihr Bündnis 90 den zivilgesellschaftlichen Vordenkern der westdeutschen Grünen anzuschließen - aus der Kirche in den Plenarsaal -, schlossen sich die Jungrevolutionäre der ostdeutschen Provinzen auf der ideologischen Grundlage derer zusammen, die sich mit dem ersten Anschluss, dem von 1938, schon immer einverstanden erklärt hatten.

Neonazistische Kader, so Wagner, hätten im Rahmen ihrer Strategie "national befreiter Zonen" seit 1990 gezielt soziale Zentren vereinnahmt. Mit dem von Linken abgekupferten Ziel, "Hirn und Herz der Menschen zu erobern", habe es die Feierabend-SA geschafft, in Ostdeutschland eine "breite rechtsextreme Bewegung" zu etablieren, die sich an sozialdarwinistischen und völkisch-nationalistischen Ansätzen orientiert.

Die völkischen Stoßtrupps zwischen Grevesmühlen und Wurzen - für Gauck und die anderen Ostrevolutionäre kein Grund, Ziel und Weg des 89er-Herbstes in Frage zu stellen. Dass der Inhalt dessen, was sich heute "friedliche Herbstrevolution" nennt, nie von seinen nationalistischen Elementen zu lösen war, gehört zu den unausgesprochenen Voraussetzungen der rot-grünen Machtübernahme. Die postkommunistischen Überbleibsel, von der PDS bis zu den randalierenden Neonazis, können so fast beiläufig als natürliches Erbe einer undemokratischen Vergangenheit abgehandelt werden, die die Zukunft irgendwann schon von selbst entsorgen würde.

So konnte auf nationaldemokratischer Ebene zusammenwachsen, was zusammengehörte. Während die Grünen als gewendete Nachfolger des 68er-Protests gegen die Nazi-Väter der neuen Republik den Persilschein ausstellen konnten, befreiten die Ost-Bürgerrechtler das Anschlussgebiet vom autoritären Staatssozialismus. Die Entsorgung der Geschichte avancierte zum erfolgreichsten Projekt der Vereinigung. Alles andere, insbesondere das Paradigma des demokratischen Neuanfangs, erwies sich als Gründungslüge der neuen Republik.

Und ausgerechnet die Apologeten der Zivilgesellschaft, die sich nun an der Macht befinden, haben wesentlich dazu beigetragen. So entpuppte sich Bundeskanzler Schröder außenpolitisch als eifrigster Schüler Martin Walsers. Vor allem aber Joseph Fischer reagierte schnell, als es galt, Deutschlands neue Potenz im weltweiten Spiel der Kräfte entsprechend einzusetzen. Die ökonomisch stärkste EU-Nation und weltweit zweitstärkste Handelskraft muss nach Meinung des Außenministers dabei sein, wenn es künftig gilt, internationale Konflikte zu "regeln". "Ein Staat", so Fischer, "kann von seinem strategischen Potenzial, das sich aus seiner Bevölkerungsgröße, seiner Wirtschaft, seiner Rüstung und seinen Interessen ergibt, nicht einfach zurücktreten, kann seine geopolitischen Lage nicht ignorieren und bleibt demnach ein objektiver Machtfaktor, ob er das politisch will oder nicht."

Die praktische Umsetzung dieser Erkenntnis ist bekannt: Keine zehn Jahre nach dem Fall der Mauer führte ausgerechnet Fischer, das Synonym für die in der großdeutschen Republik angekommenen 68er-Rebellen, Deutschland in den ersten Krieg. Gerade mit der Rechtfertigung dieser militärischen Aggression, also mit der vermeintlichen Verteidigung humanitärer Standards, haben die Grünen als konsequenteste westdeutsche Interessensvertreterin der Zivilgesellschaft der inneren Einheit ihren bislang schärfsten Ausdruck verliehen.

Ähnlich konsequent hat Bundesinnenminister Otto Schily diese Linie innenpolitisch durchgesetzt. Radikaler als sein Unions-Vorgänger Manfred Kanther setzt der Sozialdemokrat, der sein Handwerk einst bei den Grünen lernte, in der Einwanderungs- und Migrationspolitik nationale und europäische Maßstäbe - ohne freilich auf jenen parlamentarischen Widerstand zu stoßen, mit dem Kanther noch zu tun hatte. So ging Schilys jüngste Ankündigung, nicht jede "Wohltat" für Flüchtlinge dürfe juristisch einklagbar bleiben, ohne größere Empörung über die Bühne. Im Klartext: Die faktische Ankündigung, das ohnehin gebrochene Asylrecht vollkommen auszuhebeln - und nichts anderes besagt Schilys Drohung - wird unter rot-grüner Regierung problemloser durchsetzbar als zuvor. Die Zahlen sprechen für sich: Ausgerechnet in einer historischen Phase, in der die einst für offene Grenzen eingetretenen Ökopaxe an der Macht der Berliner Republik partizipieren, sinkt die Zahl der Asylsuchenden auf einen Tiefpunkt von unter 100 000.

Eine nur auf den ersten Blick absurde Situation: Die sich entlang zivilgesellschaftlicher Werte definierende Regierung setzt jene Normen, innerhalb deren die von Rechtsextremismusforscher Wagner analysierte "völkische Bestimmtheit" besser gedeihen kann als unter der Ägide der konservativen Regierung.

Die vermeintlich pathologischen Einzelfälle, die "Entgleisungen" von der neuen bürgerlichen Normalität erweisen sich zunehmend als Regel. Bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte, wegen deren Durchsetzung man sich außenpolitisch zum Vollstrecker erklärt hat, werden im Lande selbst zur Ausnahme, während die Akte der Barbarei die deutsche Normalität definieren. In keinem anderen Land in Westeuropa gibt es derart viele rassistisch motivierte Überfälle.

Um zu bemerken, dass die Ideologen der Zivilgesellschaft sich selbst ad absurdum führen, reicht die Lektüre der täglichen Nachrichtenspalten aus. Wenn es aber für Menschen fremder Herkunft zum lebensgefährlichen Risiko wird, sich nachts auf der Straße zu bewegen, sind selbst die geringsten Errungenschaften der bürgerlichen Revolution außer Kraft gesetzt. Zehn Jahre nach dem Mauerfall zeigt die Entwicklung dieses Landes vor allem eines: Das Vierte Reich ist nicht eingetreten. Alles weitere regelt die deutsche Zivilgesellschaft.