Kinderproduktion nach deutschem Reinheitsgebot

Dorothee Schmitz-Kösters Recherchen zum Alltag der Frauen im "Lebensborn e.V.".

Zu den bis bisher wenig erforschten Organisationen des Dritten Reiches zählt nach wie vor der Lebensborn e.V. Das allgemeine Wissen darüber ist spekulativ, gemischt "mit einer Prise Sensationslust, manchmal sogar mit einer gewissen Faszination". Die Journalistin Dorothee Schmitz-Köster versucht, sich in ihrem Buch "Deutsche Mutter, bist du bereit ... Alltag im Lebensborn" der schwierigen Materie sachlich zu nähern. Das Problem dabei ist, daß nur noch relativ wenige Dokumente erhalten sind. Als sich die deutsche Kapitulation ankündigte, wurden die Papiere zum Belastungsmaterial und daher zumeist vernichtet. So ist über den Lebensborn bislang kaum fundierte Literatur erschienen. Schmitz-Köster nutzt die wenigen vorhandenen Zeugnisse und hat sich außerdem auf die Suche nach Überlebenden der Mütter- wie der Kindergeneration gemacht.

18 Personen, vorwiegend Frauen, erklärten sich zu Gesprächen bereit. Auffällig dabei ist "das jahrzehntelange, mehr oder weniger bewußte Wegschieben dieses Lebensabschnitts - der persönlichen Geschichte im besonderen und der Nazizeit im allgemeinen. Auch daß sie schon damals, als junge Frauen, Zusammenhänge ignorierten, ausblendeten, umdeuteten oder schönmachten - aus Desinteresse, Naivität, politischer Überzeugung oder weil sie wegen einer unehelichen Schwangerschaft unter ungeheurem Druck standen." Am Stil des Buches, das ein interessantes Thema in ausgesuchter Trockenheit abhandelt, ändern diese Berichte der Zeitzeugen allerdings nicht viel. Ärgerlich ist darüber hinaus die beharrliche Redundanz, mit der textbausteinartig Argumente, Formulierungen, Definitionen wiederholt werden, was die Lektüre nicht gerade erleichtert.

Die Organisation "Lebensborn e.V." wurde von zehn namentlich nicht bekannten SS-Führern am 12. Dezember 1935 in Berlin gegründet. Als Spiritus rector galt Heinrich Himmler, der die Führungsrolle der SS auch auf dem Sektor der nationalsozialistischen Rassenpolitik beanspruchte. Lebensborn entstand in Konkurrenz zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), der Dachorganisation der staatlichen Sozialpolitik, die sich seit 1933 besonders in der Schwangeren- und Mutterbetreuung hervortat. Als eingetragener Verein konnte Lebensborn selbständig Immobilien und Land erwerben. Schmitz-Köster konzentriert ihre Recherchen auf das "Heim Friesland" nahe Bremen, das am 1. Mai 1938 als Entbindungsheim des Lebensborn eröffnet wurde. Insgesamt gab es auf dem Gebiet des Deutschen Reiches neun Heime der Organisation. Ihr Ziel war die Beförderung der Kinderproduktion nach deutschem Reinheitsgebot. Frauen und Männer "guten Blutes" sollten sich zum Wohle der "nordischen Rasse" und des deutschen "Übermenschen" rege vermehren und eine "erbgesunde", "arisch" einwandfreie Nachkommenschaft bzw. SS-Elite heranzüchten. In einer Rede wies Himmler 1937 der NSDAP die politische Führungsrolle zu, der SS die "menschenzüchterische". Dabei ging die Rasse über die Nation. In den eroberten Ländern entstanden dreizehn weitere Lebensborn-Heime, davon allein acht in Norwegen - wegen seiner "rassisch hochwertigen" (blonden, blauäugigen) Bevölkerung. Viele dieser Kollaborationskinder wurden zur Adoption freigegeben, andere, zum Beispiel aus Ost- und Südeuropa, einfach ins "Altreich" verschleppt und "eingedeutscht". Schon 1938, also noch vor Kriegsbeginn, hatte Himmler seine Absicht betont, "germanisches Blut in der ganzen Welt zu holen, zu rauben und zu stehlen."

Bemerkenswert ist, daß sich keine von Schmitz-Kösters Gesprächspartnerinnen, weder Mitarbeiterinnen noch Klientinnen, negativ über ihre Heim-Zeit äußerte. Die Anziehungskraft von Lebensborn beruhte vor allem auf den Angeboten, die es unverheirateten Müttern machte, indem es sie vor der gesellschaftlichen Diskriminierung bewahrte. Diese praktizierte die katholische Kirche ebenso wie Nationalsozialisten unterschiedlicher Couleur. Uneheliche Schwangerschaft galt als "Sünde" bzw. als Beschmutzung des "sauberen" Familienideals, die per Gesetz bestraft wurde. So wurden unverheiratete Beamtinnen, die ein Kind erwarteten, entlassen. Der Lebensborn reagierte auf derlei Probleme, jedoch nicht unter sozialen, sondern unter "rassenpolitischen" Vorzeichen: Waren Mutter und Vater gesund und nachgewiesen "arisch", bot die Organisation "frühzeitige Heimunterkunft, Geheimhaltung der Geburt, Übernahme der Vormundschaft, wenn das Kind den 'Elite'-Anforderungen entsprach, Heranziehung der Väter zur Alimentenzahlung, längerfristige Unterbringung des Kindes, Hilfe bei der Suche nach einer Arbeitsstelle, manchmal sogar eine Anstellung beim Lebensborn selbst und Vermittlung von Pflegeeltern und Adoptivfamilien."

Insofern konnte eine Frau, die "alle Auslesekriterien" erfüllte, "Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft vollständig verbergen." Das drückt natürlich auch die Doppelmoral der Herrenmenschen aus, die sich mit ihrer Rassenpolitik gegen die Institution Familie wandten, auf die sie sich andererseits stützten. Daß der Lebensborn - auch unter SS-Mitgliedern und Nazianhängern - nicht den besten Ruf hatte, hängt vorwiegend mit dieser offenen Amoral zusammen. Obwohl die "tausendjährigen" moralischen und "rassischen" Aufnahmekriterien für die Lebensborn-Heime im Zuge verstärkter Geburtenförderung aufgrund steigender Kriegsverluste gelockert wurden, kam der Service nach wie vor nur dem "gesunden" und "arischen" Teil der Bevölkerung zugute. Geburtenfördernde und geburtenverhindernde Maßnahmen sowie Gesetze verliefen im braunen Deutschland von Anfang an parallel. Im Mai 1933 wurde das Abtreibungsverbot verschärft (1943 bis zur Todesstrafe), im Juli 1933 das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" beschlossen. Im Jahr 1935 wurde der Lebensborn gegründet und es wurden die "Nürnberger Gesetze" erlassen. Die Vernichtung jeder Abweichung betraf Eltern wie Kinder. Daran kann sich keine der von Schmitz-Köster befragten Beteiligten erinnern. "Kranke Kinder wollte keiner", resümiert die ehemalige Sekretärin Beate D. schlicht. Bei der Geburt "lebensunwerten" Lebens wurden der Mutter, gegebenenfalls den Eltern, die Heim-Privilegien entzogen, die Kinder in Tötungsanstalten ermordet. Was "Sonderbehandlung" in einer "Kinder-Fachabteilung" hieß, war nichts anderes als das Todesurteil. Einer der wenigen Beweise für die vom Lebensborn veranlaßten Kindermorde ist der Brief, den der Leiter von "Heim Wienerwald" an den Arzt und Lebensborn-Co-Geschäftsführer Gregor Ebner schrieb. Darin regt er die Verlegung eines "geistig zurückgebliebenen Säuglings" in die Wiener Städtische Fürsorge-Anstalt am Spiegelgrund an, die "im Sinne der Ausmerze" tätig sei.

Mit Realitäten wie etwa dem Euthanasieprogramm zur Vernichtung "lebensunwerten Lebens" (unter anderem von Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung) haben all die schlüpfrigen Legenden nichts zu tun, die aus den Lebensborn-Heimen pervers schicke "Edelbordelle" machen, in denen stramme "Zuchtbullen der SS" - übrigens zeitgenössische Ausdrücke - mit ausgesuchten deutschen Mädels Nachwuchs für den "arischen Adel" zeugten. "Daß der Lebenborn keine derartige Praxis betrieben hat, ist längst nachgewiesen", konstatiert Schmitz-Köster, und fragt nach den Ursachen des zählebigen Klischees: "Ist es die Konstellation: Die Schöne und das Biest? Eine Allegorie, die hier für das deutsche Volk und den Faschismus steht? Oder die unterstellte Verbindung von 'sex and crime'?"

Was die unerotisch wie eine Fleischfabrik geschilderten Lebensborn-Heime mit ihren Säuglingsställen im kollektiven Gedächtnis bis heute so lebendig hält, ist jedoch wohl auch die Sehnsucht nach dem "fehlerfreien" Menschen aus lauter "guten Genen". Die Idee vom DIN-gerechten, störungsfrei funktionierenden Nachwuchs ist - von Schaf Dolly bis zur künstlichen Befruchtung mit Augenfarbengarantie - längst wieder en vogue. Eine diktatorische Institution wie der Lebensborn erscheint gegen die Erfindungen ihrer bürgerlich-demokratischen (und gentechnischen) Verbesserungsenkel merkwürdig veraltet.

Dorothee Schmitz-Köster: Deutsche Mutter, bist du bereit ... Alltag im Lebensborn. Aufbau, Berlin 1997, 245 S., DM 36