Wunderheiler am Werk

Die Bundesregierung hat es fast geschafft: Schwerbehinderte drängeln sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vor

Arbeitslose Schwerbehinderte? Gibt's nicht, jedenfalls nicht genug, um die bisherige Sechs-Prozent-Quote aufrechtzuerhalten. Meint der schon vor seiner Zeit als Arbeitgeberpräsident als Scharfmacher bekannte Dieter Hundt: Was soll man einer Quote hinterherhecheln, die längst nicht mehr zeitgemäß ist, fragte er kürzlich. Oder schlimmer: Für jedes Zehntelprozent weniger Arbeitsplätze, die mit Schwerbehinderten oder Gleichgestellten besetzt werden, Ausgleichsabgaben an den Staat zahlen?

Klar, recht hat der Mann, polemisierte spontan sogar die Zeit. Behinderte in Deutschland? "Sind doch alle bestens integriert, aufs feinste ausgestattet. Und die paar, die vielleicht wirklich ohne Arbeit sind, die wollen doch gar nicht. Alles Drückeberger, Faulenzer, wahrscheinlich sogar scheinbehindert."

Trotz der Verteidigungsrede des liberalen Blattes - und Protesten von Behindertenverbänden und Gewerkschaften - sind die Zweifel geblieben. Andere Industrielle haben die Forderung aufgegriffen, selbst im ...ffentlichen Dienst macht man sich mehr oder weniger laut Gedanken darüber, ob und wieviele Stellen denn tatsächlich Frauen und Männern mit der entsprechenden Bescheinigung vorbehalten bleiben sollen. "Vielleicht müßten die sechs Prozent doch noch einmal überprüft werden", grübelt eine Pressesprecherin im Arbeitsministerium. "Zitieren Sie mich aber nicht!"

Dabei ist das Wichtigste an Hundts neuem Vorstoß nicht, daß beim Abbau des Sozialstaats auch öffentlich wieder ein weiterer Bereich zum Einreißen freigegeben wird. Er lenkt aber den Blick auf Fakten, die - beinahe unbemerkt und nahezu unkommentiert - längst geschaffen sind. Denn tatsächlich ist die Anzahl der arbeitslos gemeldeten Schwerbehinderten in den letzten Jahren gesunken, in Ostdeutschland beispielsweise weist die Statistik der Arbeitsämter gerade mal einen Stand von 28 500 Frauen und Männern auf. Gemessen an den beinahe 1,3 Millionen Erwerbslosen insgesamt eine verschwindend geringe Zahl. Auf der anderen Seite: Wieviele Unternehmen erfüllen denn die Quote? Kaum eins, so die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit. In der gesamten Privatwirtschaft beträgt die Beschäftigungsrate von Schwerbehinderten nur 3,6 Prozent. Selbst der ...ffentliche Dienst kommt, so die Bundesregierung in Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag, trotz seiner Vorreiterrolle lediglich auf 5,2 Prozent. Noch schlimmer sieht es im Osten aus, der nur auf eine Quote von 2,9 Prozent kommt. Gerade mal 73 000 behinderte Frauen und Männer haben hier einen festen Arbeitsplatz. Zusammen mit den 28 500 Erwerbslosen macht das 101 500, die in den Statistiken erfaßt sind.

Das wirft eine neue Frage auf, denn noch 1990 waren rund 200 000 Schwerbehinderte in der ostdeutschen Industrie und dem Dienstleistungsbereich beschäftigt. Beinahe die Hälfte der entsprechenden Arbeitsplätze sind also vernichtet worden, im ...ffentlichen Dienst kommen noch einmal 60 000 hinzu. Tendenz steigend. Wo sind die Leute geblieben?

"In der Rente", mutmaßt man in der Pressestelle des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg, auch in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ist man sich sicher, daß "die dem Arbeitsmarkt nicht mehr zu Verfügung stehen".

"Ich bin arbeitsfähig", sagt dagegen der 46jährige ehemalige Chemnitzer Werkzeugbauer Klaus S., der nach einem Schlaganfall vor zwei Jahren zunächst in die Rehabilitation ging. Bis er im Frühjahr einen Bescheid des Arbeitsamtes bekam, daß die Maßnahme zwar bis Anfang nächsten Jahres finanziert werden könne, das begleitende Übergangsgeld aber ab sofort gestrichen sei. Vorschlag: Er möge doch Frührente beantragen.

Hintergrund sind das sogenannte Sparpaket, das "Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung", das die Bundesregierung im vergangenen Jahr verabschiedet hat, und das reformierte und teilweise seit dem 1. Januar geltende Arbeitsfördergesetz (AFRG). In diesen hatte die Regierungskoalition sowohl den bis dato bestehenden Rechtsanspruch auf Rehabilitation als auch das Übergangsgeld in eine Kann-Leistung umgewandelt.

In der Praxis heißt das, daß die Chancen auf eine berufliche Eingliederung von behinderten Frauen und Männern vor allem von zwei Faktoren abhängen sollen: Von der Haushaltslage der Bundesanstalt für Arbeit, die nach den Etatkürzungen vom vergangenen Dezember erst sehen muß, ob nach der Auszahlung von Arbeitslosengeld und -hilfe als Muß-Leistungen noch Geld für anderes übrigbleibt. Und von dem Ermessen der Arbeitsvermittler vor Ort, die vom Bundesarbeitsministerium die Maßgabe bekommen haben, "bei jeder beruflichen Rehabilitation für Behinderte künftig arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeitserwägungen und die Erfolgsaussichten einer Eingliederung besser" zu berücksichtigen.

Proteste hatten lediglich einen Aufschub erreichen können: Nach dem AFRG gilt der Rechtsanspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen für Frauen und Männer mit einer Behinderung von mehr als 50 Prozent noch bis zum Ende des Jahres - mit der Auflage, daß Antragstellende individuell nachweisen können, daß sie die Hilfe konkret benötigen, um wieder auf den Arbeitsmarkt zu gelangen. Ob das gelingt, hängt dann von fitten Arbeitsvermittlern ab. "Vermutlich werden nur die Hilfe bekommen", faßt die PDS-Sozialpolitikerin Petra Bläss zusammen, "die erfolgreich vor Gericht ziehen." Und auch dann bleibt - wie bei Klaus S. - das Problem mit dem Übergangsgeld, das weiterhin als Kann-Leistung verteilt wird. "Der alte Westgrundsatz, daß Rehabilitation vor Rente geht, ist im Osten nie ernsthaft verfolgt worden", im Gegenteil sei hier ausprobiert worden, "was sich inzwischen bundesweit durchsetzt".

Dazu gehört auch die Umstrukturierung der Werkstätten für Behinderte, die eigentlich den Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt erleichtern sollten. Beispiel Cottbus: Hier arbeitet Gudrun H., die leicht geistig behindert ist, aber zu den besten Kräften vor Ort zählt. "Ich würde gerne richtig arbeiten, mit Gesunden zusammen", sagt sie. Aber selbst wenn sie einen Arbeitgeber finden würde, kann sie nicht darauf zählen, daß ihr Chef sie gehen läßt. Denn der ist nunmehr verpflichtet, mit der Werkstatt Gewinn zu erwirtschaften, und kann gerade auf die Besten kaum verzichten.

Aber es liegt nicht nur an den Interessen der Maßnahmenträger, daß von den rund zehn Prozent der schwerbehinderten Frauen und Männer, die in den Werkstätten beschäftigt sind, bislang nur knapp ein Prozent auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt wird. Die Bundesregierung hat noch eine zweite Notbremse eingebaut, die die Beschäftigten - oder ihre Angehörigen - meist selber ziehen: Rentenansprüche aus der Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte erwirbt nur, wer ununterbrochen 20 Jahre beschäftigt war.