Schwarz-rot-Niddener Blau

In Litauen auf der kurischen Nehrung haben ältere deutsche Herrschaften ein ganz besonderes Urlaubsvergnügen entdeckt: Revanchismus ohne Reue. Beobachtungen

"Nun, junger Mann, was hat Sie denn hierher geführt?" fragt mich der rüstige Mittsiebziger über die Frühstückstische der Pension Rasyte hinweg. Ich erstarre mit dem Brötchen in der Hand. Denn ich ahne, daß dieser Mann ein deutscher Vertriebener ist, der einen Besuch auf der kurischen Nehrung nutzt, um das zu schnuppern, was Leute wie er wohl "Heimatluft" nennen mögen. Und ich ahne, daß ich mir etwas werde anhören müssen, das ich mir gerne erspart hätte. Vorgestern bin ich auf der Nehrung angekommen, jener 90 Kilometer langen Landzunge, die von Kaliningrad aus ins Meer ragt und die Ostsee vom Kurischen Haff trennt. Ein Drittel der Nehrung gehört heute zu Rußland, zwei Drittel gehören zu Litauen, quer über sie hinweg führt die Grenze. Doch die Grenzen, in denen der Herr am Nebentisch denkt, sind die Grenzen von 1937. Da war die Nehrung deutsch, und Nida, der kleine Touristenort auf der dem litauischen Festland zugewandten Seite der Halbinsel - in dem wir beide beim Frühstück sitzen - hörte auf den Namen Nidden.

Nach drei Minuten freundlichen Verhörs weiß der Herr am Nebentisch, daß ich 1966 an der Nordsee geboren wurde und Journalist bin. "Herrjeh, Journalist! Und so ein junger Kerl noch", lacht er. "Da werde ich Ihnen besser mal ein bißchen was erzählen, damit Sie zu Hause keinen Mist schreiben."

Dann erzählt er tatsächlich. Pausenlos, erbarmungslos, unbeirrbar. Aber leider gar nicht dumpf und bierdunstig. Der Mann gibt seine Geschichte offensichtlich nicht zum ersten Mal zum besten. Aus Insterburg stammt er, aber seinen Urlaub macht er lieber hier in Litauen, denn "die Russen haben ja alles so runterkommen lassen. Schreiben Sie ruhig mal, daß hier früher die Kornkammer des Deutschen Reichs war." Er ist schon zum sechsten Mal hier, die ersten Male noch illegal, aber "seitdem ich fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft war und zweimal vor dem Erschießungskommando gestanden habe, macht mir nichts mehr Angst." Und: "Für mich wird das hier immer ein Stück Deutschland bleiben."

Je länger er erzählt, desto häufiger merke ich, daß ich ihm zunicke. Der Mann argumentiert zurückgelehnt aus der Position des Lebenserfahrenen, läßt Brosamen fallen für einen jungen Hüpfer wie mich, der alles nur aus Büchern kennt. Mir wird immer unwohler, vor allem, weil mir ums Verrecken nicht einfällt, wie ich seine selbstsicheren Geschichtslektionen unterbrechen soll.

Irgendwann werde ich sauer. "Man kann doch aber die deutsche Geschichte nicht außer acht lassen", werfe ich lahm ein. Da lächelt er nur. "Ach, Sie meinen die Sache mit Hitler...?" Der Mann will nicht seinen Führer wiederhaben. Und auch nicht seinen Kaiser Wilhelm. Falls er es doch will, ist er jedenfalls zu abgeklärt, das einem Schreiberling unter die Nase zu reiben. Jedenfalls bin ich heilfroh, als er sich mit einem Anliegen an die Zimmerwirtin wendet, und ich nach draußen entkommen kann.

Für mich waren Vertriebene bislang ein Haufen Spinner im Fernsehen, die sich einmal jährlich auf ihren Treffen mit absurden Forderungen blamierten und im Gegenzug von Alfred Dregger oder einem vergleichbaren Ultrakonservativen mit ein paar leeren Versprechungen abgespeist wurden. Oder bestenfalls noch das Greisenpaar, das neben meiner Großmutter wohnte und mir immer Geschichten aus Ostpreußen erzählte, bis es mich endlich mit einer Tafel Schokolade abfand. Aber die, die ich hier in Litauen treffe, sind anders. Sie tragen keine Trachtenjacken und schimpfen nicht über vaterlandsverräterische Politiker. Rüstige Rentner sind es, die bei Kriegsende Kinder oder Pimpfe waren. Keinen einzigen sieht man in unwürdigen Shorts herumlaufen, öffentlich Bier saufen oder "Oh, du schöner Westerwald" grölen. Würden dunkle Mächte einen nach Mallorca verschlagen, wäre man vermutlich heilfroh, derart dezente Mitreisende zu finden. Nur ihren Revanchismus, den wollen sie sich nicht austreiben lassen. Sie bezahlen gut, und dafür soll alles so sein, wie es früher war.

"Drei Briefmarken, nach Deutschland!" Beim Zigarettenkauf am Kiosk habe ich schon wieder eine Begegnung, die ich lieber nicht hätte. Ein rheinisches Ehepaar ist völlig konsterniert, daß die litauische Verkäuferin kein Deutsch versteht. "Nach Deutsch-land!" brüllt der Gatte erneut und doppelt so laut, als ob das das Verständnis verbesserte. Dann ziehen die beiden beleidigt ein paar Meter weiter zur Bushaltestelle und ordern zwei Fahrscheine nach Schwarzort. Der Busfahrer ist besser vorbereitet und reicht schweigend die Tickets. Obwohl Schwarzort auch schon seit über fünf Jahrzehnten Juodkrante heißt. Beim Einsteigen fällt der Blick der Gattin auf meine Brust. Dort ist ein Sticker mit der Aufschrift "NA" befestigt. Sie nickt mir verschwörerisch zu. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich ihr nicht nachrufen soll, daß das mitnichten "Nationale Alternative" oder sonstigen Scheißdreck bedeuten soll. Sondern "Narcotics Anonymous". Doch dann fährt der Bus ab, und ich stehe heute zum zweiten Mal mit Wut im Bauch da.

Gegen Abend besuche ich das Thomas-Mann-Haus. Nida hat eine lange Tradition als Künstlerkolonie. 1898 ließ sich der Maler Oskar Moll hier nieder, später folgten Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff, andere "Brücke"-Künstler und der Komponist Engelbert Humperdinck. Mann entdeckte die Nehrung 1930 und ließ sich für die nächsten beiden Jahre eine Sommerfrische direkt am Meer bauen, ein schmuckes zweistöckiges Gebäude im Stil der Fischerkaten mit Fensterläden in strahlendem Aquamarin, das hier "Niddener Blau" heißt. Die Aussicht aus seinem Arbeitszimmer nannte er "meinen italienischen Blick". Inspiriert davon schrieb er hier "Joseph und seine Brüder". Was immer man von diesem stinklangweiligen, etwa achtundzwanzigtausend Seiten zu langen Roman halten mag, besser als die Einträge, die die unvermeidlichen Vertriebenen im Gästebuch hinterlassen haben, ist er allemal. "Schön, wieder in der Heimat zu sein!" steht dort oder schlicht: "Deutsche Heimat!" Als ich dann noch die Einträge eines Heimatvereins aus Esslingen lese, reicht es mir für heute.

Ich bekomme einen jähen Anfall politischer Korrektheit. "Freut mich, daß gerade so viele ältere Menschen das Haus des homosexuellen Exilanten Thomas Mann besuchen", schreibe ich ins Buch. Kaum habe ich das Haus verlassen, beginnt in mir die Frage zu nagen, die ich allerdings erst abends im Hotel ausspreche.

"War das eigentlich peinlich, was ich geschrieben habe?" frage ich meine Begleiterin. "Nein", sagt sie. "Die haben es nicht besser verdient."