Tomáš Kraus, Verband jüdischer Gemeinden in Tschechien, im Gespräch über seinen Vater, den Auschwitz-Überlebenden František R. Kraus

»Er wollte Zeugnis ablegen«

Interview Von Niklas Lämmel

Nach fast 80 Jahren ist František Robert Kraus’ auto­biographischer Bericht »Gas, Gas, … und dann Feuer« auf Deutsch erschienen. In dem bereits 1945 erstmals auf tschechisch veröffentlichten Buch schildert der Journalist seine Zeit in mehreren Konzentrationslagern. Sein Sohn Tomáš Kraus spricht mit der »Jungle World« über das Leben seines Vaters und die Stellung der Juden in der Tschechoslowakei.

Ihr Vater, František Robert Kraus, hat im September 1945 das Buch »Gas, Gas, … und dann Feuer« auf Tschechisch veröffentlicht. Er berichtet darin, wie er das Ghetto Theresienstadt und die Konzen­trationslager Auschwitz-Birkenau, Gleiwitz und Blechhammer überlebt hat. Erst jetzt ist eine deutsche Fassung erschienen. Was sind die Gründe dafür, dass das Buch so lange nicht übersetzt worden ist?
Das hat zunächst mit den politischen Entwicklungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun. Bis 1948 konnte das Buch in der Tschechoslowakei erscheinen, es gab sogar drei Auflagen. Nachdem die Kommunisten an die Macht gekommen sind, war das nicht mehr möglich. Wenn in dieser Zeit über den Zweiten Weltkrieg gesprochen wurde, musste es immer um den kommunistischen Widerstand gehen. Das war aber nicht das Thema von »Gas, Gas, … und dann Feuer«.

»Ich habe lange versucht, einen deutschen Verlag für eine Übersetzung zu finden, hatte aber erst jetzt Erfolg.«

In den sechziger Jahren wurde ihm dann gesagt: »Das ist doch jetzt schon 20 Jahre her. Was interessiert uns die Vergangenheit? Wir bauen den Sozialismus auf!« Unter diesen Umständen wäre es ein großes Risiko gewesen, Kontakt zu einem westdeutschen Verlag aufzunehmen. Andere Bücher von meinem Vater konnten dagegen in der Tschechoslowakei veröffentlicht werden, allerdings nur in zensierter Form. Als problematisch galt etwa seine Haltung zum Zionismus.

Was genau hielt man für problematisch und was folgte daraus?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Mein Vater hat nach 1945 einen Roman mit dem Titel »Šemarjáhu sucht Gott« geschrieben. Es basiert auf einer wahren Geschichte: Ein Vater und sein Sohn überleben den Holocaust. Sie denken jedoch, dass der jeweils an­dere ermordet worden sei. Nachdem sie sich durch einen Zufall wiedertreffen, entscheiden sie sich, in den neugegründeten jüdischen Staat ­Israel auszuwandern. In der Tschecho­slowakei konnte das Buch nur mit ­einem anderen Ende veröffentlicht werden. In dieser Version bleiben die beiden Überlebenden in der Tschechoslowakei und arbeiten am Aufbau des Sozialismus. Der neue Titel lautete dann: »David wird leben«.

Die Situation hat sich ja nach 1989 geändert. Wieso konnte dennoch erst jetzt ein deutscher Verlag gefunden werden?
Ich habe mich nach 1989 zunächst um die Veröffentlichung von Büchern meines Vaters gekümmert, die bisher noch gar nicht erschienen waren. Auch von »Gas, Gas, … und dann Feuer« gab es eine – wenn auch nicht besonders professionelle – Neuauflage. Ich habe dann lange versucht, einen deutschen Verlag für eine Übersetzung zu finden, hatte aber erst jetzt Erfolg. Bei der Vermittlung hat mir der Theresienstadt-Überlebende Pavel Hoffmann geholfen, der in Deutschland lebt.

»Gas, Gas, … und dann Feuer« beginnt mit dem Transport aus dem Ghetto Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Über das Leben Ihres ­Vaters vor den Lagern erfährt der Leser kaum etwas. Wie sah sein Leben vor der Verfolgung aus?
Mein Vater war als Journalist beim berühmten deutschsprachigen Prager Tageblatt tätig. Er stand den Schriftstellern des sogenannten Prager Kreises nahe: Egon Erwin Kisch, Max Brod, aber auch Franz Kafka. Später arbeitete er dann für die Prager Presse, die sich vor allem an die sudetendeutsche Minderheit in der Tschechoslowakei richtete. Die Idee war, der starken nationalsozialistischen Propaganda etwas entgegenzusetzen.
Mein Vater schrieb schon in den zwanziger Jahren antifaschistische Texte. Er hat sich selbst immer als linker Sozialdemokrat verstanden, aber nie als Kommunist. Er war außerdem als Korrespondent in verschiedenen Ländern und berichtete für ausländische Zeitungen aus Prag. Er hat die Ereignisse, die zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, teilweise aus nächster Nähe erlebt. Er war also ein erfahrener Journalist. Vielleicht war das ein Grund dafür, dass er direkt 1945 die Geschichte seines Überlebens aufschreiben konnte.

Kümmert sich um den Nachlass seines Vaters: Tomáš Kraus

Kümmert sich um den Nachlass seines Vaters: Tomáš Kraus vom Verband jüdischer Gemeinden in der Tschechischen Republik

Bild:
privat

Unter welchen Umständen entstand »Gas, Gas, … und dann ­Feuer«?
1945 konnte mein Vater aus dem Konzentrationslager Blechhammer fliehen. Mit Hilfe von polnischen Partisanen gelangte er dann über die Karpatoukraine nach Budapest, das zu diesem Zeitpunkt schon von der Roten Armee befreit worden war. Dort organisierten ihm Bekannte, vermutlich Journalistenkollegen, eine Wohnung – und eine Schreibmaschine! Er konnte also sofort damit beginnen, seine Erinnerungen an Auschwitz und die anderen Konzen­trationslager aufzuschreiben. Die Erfahrungen waren noch frisch und er wollte Zeugnis ablegen.

Der Wunsch, Zeugnis von den Verbrechen abzulegen, wird auch im Buch selbst thematisiert. An einer Stelle beschreibt Ihr Vater, wie er und andere bei der Ankunft in Auschwitz von der SS durchsucht und gequält werden. Einer der Häftlinge ruft ihm währenddessen zu: »Du lebst und durchlebst als Zeuge all das, was noch keiner auf dieser Welt gesehen, erlebt hat.«
Ja, sein Mantra nach dem Krieg war: Nie wieder! Das hat er mit anderen Überlebenden geteilt. Aber wo stehen wir heute? Niemand hat das »Nie wieder« gehört.

Das Buch erschien bereits im September 1945 in der Tschechoslowakei. Wie ist es von der Öffentlichkeit aufgenommen worden?
»Gas, Gas, … und dann Feuer« wurde insbesondere von anderen Überlebenden und Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gelesen. Aber auch viele nichtjüdische Tschechen haben sich dafür interessiert. Ich vermute, dass es der erste autobiographische Bericht über den Holocaust überhaupt gewesen ist. Man muss bedenken, dass er noch zwei Jahre vor dem berühmten Buch »Ist das ein Mensch?« von Primo Levi erschienen ist!

Wie ging das Leben ihres Vaters nach 1945 weiter?
Er war wieder als Journalist tätig. Er hat die tschechoslowakische Presseagentur und den Rundfunk mit aufgebaut. Er hatte also eine wichtige Position in der Medienlandschaft der Nachkriegszeit. Das ging bis Anfang der fünfziger Jahre …

… dann fanden die antisemitischen Schauprozesse gegen Rudolf Slánský und weitere führende Mitglieder der Kommunistischen Partei statt. Fast alle von ihnen waren jüdisch. Ihnen wurde vorgeworfen, »Zionisten« und »Kosmopoliten« zu sein. Slánský und zehn weitere Personen wurden hingerichtet.
Mein Vater wurde vom einen auf den anderen Tag entlassen und aus seiner Wohnung geworfen. Die offizielle Begründung lautete, dass er zu alt für den Job sei und nun jüngere Leute aus der Arbeiterklasse nachrücken sollten. Für ihn war aber ganz klar: Er wurde entlassen, weil er Jude war. Und das nur wenige Jahre nachdem er Auschwitz überlebt hatte! Er war dann gezwungen, in Rente zu gehen, und hat sich ganz dem Schreiben gewidmet.

Sie haben kürzlich selbst ein Buch veröffentlicht: »Dalši, prosím« (»Der Nächste, bitte«). Darin beschreiben Sie, wie Sie als Sohn von zwei Holocaustüberlebenden in der Tschechoslowakei aufgewachsen sind.
Meine Eltern haben mit mir nicht über die Verfolgung gesprochen. Aber ich habe als Kind trotzdem ­etwas geahnt. Später habe ich eine Sammlung von Anekdoten aus meiner Kindheit gelesen, die mein Vater aufgeschrieben hat. Einmal habe ich zusammen mit meinen Freunden am Strand Eisenbahnen aus Sand gebaut. Und einer meiner Freunde sagte: »Mein Zug fährt nach Brünn«, einer anderer sagte: »Meiner nach Prag«, und ich sagte: »Mein Zug fährt nach Auschwitz.«

Wie war die Situation der jüdischen Gemeinde in der realsozialistischen Tschechoslowakei?
Grundsätzlich war das Gemeinde­leben stark eingeschränkt. Alles Jüdische stand im Verdacht, irgendwie mit Israel verbunden zu sein. Die fünfziger Jahre waren eine Katastrophe, die sechziger Jahre dann ein bisschen freier. Die Situation änderte sich wieder nach dem Ende des Prager Frühlings. Damals verließen 6.000 bis 8.000 Juden das Land. Es ist fast niemand übriggeblieben.

»Der Antisemitismus ist wie ein Virus – aber wie ein Virus, das mutiert.«

Aber das Jahr 1989 war dann wirklich eine Revolution, auch wenn ich das Wort nicht mag. Alles, was vorher verboten war, war nun möglich! Wir konnten beispielsweise als Gemeinde Kontakte nach Israel aufbauen. Aber erst einmal haben wir die Räume der jüdischen Gemeinde in Prag durchsucht und die ganzen Wanzen entfernt, die die Staatssicherheit installiert hatte.

Wie nehmen Sie die Lage seit dem Terrorangriff der Hamas auf ­Israel vom 7. Oktober 2023 wahr?
Bei uns ist die Situation ruhiger als in anderen Staaten. Aber trotzdem spüren auch wir eine Veränderung. Als jüdische Gemeinde haben wir kürzlich einen Bericht veröffentlicht. Im Jahr 2023 gab es 90 Prozent mehr antisemitische Vorfälle als im Jahr davor. Das Jahr 2024 wird sicher noch schlimmer. Ich sage immer: Der Antisemitismus ist wie ein Virus – aber wie ein Virus, das mutiert. ­Niemand sagt mehr, dass die Juden Jesus gekreuzigt hätten. Die Anti­semiten von heute sprechen stattdessen über Israel und Palästina. Aber die Stereotype bleiben dieselben.

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Buchcover


František R. Kraus: Gas, Gas, … und dann Feuer. Häftlingsnummer B 11632. Aus dem Tschechischen von Vera Trnka. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024, 120 Seiten, 17,90 Euro

Am 29. Oktober findet in der Brücke-Villa in Dresden eine Lesung und ein Gespräch mit Tomáš Kraus statt. Anmeldung unter: anmeldung@bmst.eu

In dieser Ausgabe der »Jungle World« findet sich ein Auszug aus František R. Kraus’ Buch »Gas, Gas, … und dann Feuer«.