Shafi Ahmad Shir­zad, »Help – Hilfe zur Selbsthilfe«, im Gespräch über humanitäre Hilfe in Afghanistan

»Wir müssen uns anpassen«

Interview Von Lena Reiner

Am 15. August 2021 haben die Taliban in Afghanistan die Macht ­übernommen, ihre Regierung ist aber international nicht anerkannt. Für internationale Hilfsorganisationen ist es schwerer geworden, den Menschen im Land zu helfen. Ein Gespräch mit Shafi Ahmad Shirzad, dem Landesdirektor der humanitären Hilfsorganisation »Help – Hilfe zur Selbsthilfe« in Afghanistan.

Wie ergeht es den Menschen in Afghanistan zurzeit?
Die Sicherheitslage ist okay, wenn auch nicht perfekt. Der Hunger ist allerdings groß, mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die steht aber nicht in dem Ausmaß zur Verfügung, in dem sie benötigt wird. Viele Familien können sich derzeit keine drei Mahlzeiten am Tag leisten und müssen auf zwei oder gar eine reduzieren. Das hat Mangelernährung zur Folge. Die Menschen werden so immer vulnerabler. Viele Frauen sind durch die jüngsten Gesetze arbeitslos geworden oder sie dürften zwar theoretisch arbeiten, aber sie können nicht zur Arbeitsstelle gelangen, weil sie keinen mahram haben, also keinen männlichen Vormund aus der ­Familie.

»Es gab viele Frauen in Afghanistan, die ihre Familie ernährt haben, also das wirtschaftliche Familienoberhaupt waren.«

Welchen Einfluss hat es, dass viele Frauen nicht mehr arbeiten können oder dürfen?
Man muss dazu wissen, dass es viele Frauen in Afghanistan gab, die ihre Familie ernährt haben, also das wirtschaftliche Familienoberhaupt waren. Es ist natürlich fatal, dass ihr Einkommen weggefallen ist. Manche der Frauen sieht man jetzt bettelnd auf der Straße, weil sie keine andere Einkommensquelle haben. Auch die Kinderarbeit hat dadurch stark zugenommen. Das ist einer der schlimmen Nebeneffekte der derzeitigen Lage. Ungeregelte und riskante Migration sowie die ­Verschuldung von Familien kommen hinzu.

Was kann Ihre Organisation dagegen unternehmen?
Aufgrund der Streichung einiger Fördergelder mussten wir einen Teil unserer Arbeit einstellen. Wir leisten derzeit vor allem Nothilfe; der Zugang zu Lebensmitteln steht an erster Stelle. Gleichzeitig sind wir daran interessiert, Nachhaltigkeit herzustellen. Das ist in der derzeitigen Lage enorm herausfordernd. Nur rund ein Viertel dessen, was an Hilfsgeldern gebraucht würde, erreicht derzeit das Land. So bleibt wenig Spielraum für nachhaltige Lösungen, die das eigentliche Ziel unserer Arbeit sind.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit im Idealfall?
Wir möchten Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Das ist auch der Grund, wieso ich mich Help angeschlossen habe, um mit den Menschen auf Augenhöhe zu arbeiten, sie einzubeziehen und so fortbestehende Lösungen zu schaffen: Das ist der Idealfall, nach dem Sie gefragt haben. Derzeit unterstützen wir vor allem finanziell, geben Barbeträge aus, etwa zum Lebensmittelkauf oder zur Vorbereitung auf den Winter. Eigentlich ist unsere Arbeit darauf ausgerichtet, Menschen zu bilden und zu stärken, nachhaltige und sichere Arbeitsmöglichkeiten für sie zu schaffen. Das ist allerdings fast unmöglich in der momentanen Lage und aufgrund der stark eingeschränkten Bewegungsfreiheit von Frauen. Es ist enorm frustrierend für uns Helfer, nicht mehr tun zu können. Zu Beginn jedes Projekts steht bei uns eine ausführliche Recherche und der Austausch mit denjenigen, die wir unterstützen wollen. Wir möchten wissen, was die Bedürfnisse der Menschen sind und auf welchem Weg unsere Hilfe sie wirklich erreichen kann.

Und wie lässt sich das in Afghanistan erreichen?
Wir haben – wie auch andere Nichtregierungsorganisationen – beispielsweise eine »mahram-Policy« eingeführt, die es uns ermöglicht, unsere Zielgruppen zu erreichen und die Verteilung humanitärer Hilfe sicherzustellen. Auch arbeiten wir derzeit mehr auf­suchend, besuchen also die Leute eher zu Hause, als sie in unsere Einrichtungen einzuladen. Die de facto-Regierung schreibt eine strenge Geschlechtertrennung vor, Männer und Frauen dürfen nicht am selben Ort beraten werden oder arbeiten. Das ist besser umsetzbar, wenn wir weniger zentralisiert arbeiten. Unsere Arbeit ist sehr dynamisch, wir müssen uns immer wieder den Gegebenheiten anpassen. Das ist wichtig, damit unsere Hilfe die Menschen auch wirklich erreichen kann. Das ist unser oberstes Ziel: weiterhin helfen zu können. Deshalb bin ich auch ins Land zurückgekehrt.

War das nicht gefährlich?
Ich war dort, um geflüchtete Menschen zu unterstützen, unter anderem aus Afghanistan. Es war Teil meiner Arbeit. Natürlich sind wir als humanitäre Helfer:innen einer gewissen Gefahr ausgesetzt. Das war aber schon lange so. In der Vergangenheit stand das Land vor großen Herausforderungen, weil es zum Teil von den Taliban kontrolliert wurde, weil andere Regionen der »Islamischen Republik« unterstanden. Diese Teilung führte zu Unsicherheit und kriminellen Übergriffen auf Mitarbeiter:innen, humanitäre Helfer:innen konnten sich nicht frei bewegen in unsicheren Gebieten. Jetzt ist die Sicherheitslage insgesamt stabiler, aber wir sind anderweitig eingeschränkt. Es ist schlimm genug für die Menschen, wie viele Expert:innen das Land bereits verlassen haben. Ärzt:innen und andere Fachkräfte sind ins Ausland gegangen; ihre Expertise fehlt nun. Das ist der Grund, aus dem wir humanitären Helfer:innen hier bleiben, versuchen, uns der Situation und den sich schnell verändernden Umständen anzupassen. Wir bleiben, solange wir durchhalten können.

Die Taliban haben viele Regeln, die Frauen einschränken, und haben ein »Tugendgesetz« mit strengen Regeln verabschiedet; es verbietet zum Beispiel »Freundschaften mit oder Unterstützung von Ungläubigen«. Was bedeutet das für Sie?
Die de facto-Regierung achtet sehr genau auf die Einhaltung geschlechts­bezogener Regeln. Dies betrifft auch Mitarbeiter:innen von NGOs und stellt diese vor große Herausforderungen. Obwohl die Regelungen des Tugendgesetzes noch nicht vollständig implementiert sind, bringen sie Mädchen und Frauen bereits in eine noch vulnerablere Position, sie bedeuten eine weitere Einschränkung des Zugangs weiblicher Projektteilnehmer:innen zu unseren Angeboten und weitere Beschränkungen für Mitarbeiterinnen, besonders für die, die keinen mahram ­haben.

Haben Sie Hoffnung auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage?
Die Hoffnung ist noch da, auf jeden Fall. Ich denke aber nicht, dass sich kurzfristig etwas verbessern wird, auch nicht innerhalb des nächsten Jahres. Ich habe Hoffnung, dass sich die Lage im Land zum Guten wendet und besonders Frauen wieder mehr Rechte und Möglichkeiten bekommen. Sie sind derzeit fast vollständig vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, haben ab der siebten Klasse keinen Zugang zu Bildung mehr, dürfen nur in Begleitung das Haus verlassen. Ich hoffe dabei auf internationale Unterstützung, besonders auch von Deutschland, um unsere Arbeit wieder im größeren Ausmaß ausführen zu können. Wir hätten die Möglichkeiten und Strukturen; uns fehlen nur die Ressourcen.

»Viele Frauen in Afghanistan hatten ihre Familie ernährt, waren also das wirtschaftliche Familienoberhaupt. Es ist fatal, dass ihr Einkommen durch die Einschränkungen weggefallen ist.«

Dennoch, auch wenn wir die nötigen Finanzen hätten, machen uns die Re­strik­tionen der Taliban vieles unmöglich: Bildungsinitiativen für Mädchen an Schulen und Universitäten, Projekte, die sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt, dem Schutz vor sexueller Ausbeutung und Missbrauch befassen, oder auch Frauenschutzhäuser.

Welche Rolle spielt Förderung aus Deutschland?
Deutsche Fördergelder hatten lange Zeit einen wichtigen und großen ­Einfluss auf Afghanistan. Allerdings gibt es auch hier Kürzungen, der neue deutsche Haushaltsentwurf sieht fürs nächste Jahr weitere Abstriche vor. Mein dringender Appell lautet jedoch, dass Afghanistan nicht vergessen ­werden darf. Statt einer Kürzung der Hilfsgelder muss das Gegenteil passieren; sie sollten wieder aufgestockt werden.

Hängen die Kürzungen mit der ­Befürchtung zusammen, dass die nicht anerkannte islamistische ­Regierung Geld für sich abzweigt?
Wir können sicherstellen, dass das Geld zweckbestimmt eingesetzt wird. Wir arbeiten mit zuverlässigen Partnern zusammen und überprüfen diese auch regelmäßig. Falls Fördermittel­geber wollten, dass wir alle Projekte komplett selbst umsetzten, wäre das auch möglich. Da sind wir flexibel.

Spielen Naturkatastrophen eine ­besondere Rolle – etwa wegen der Folgen des Klimawandels?
In Afghanistan sind die Klimawandelfolgen sehr deutlich zu spüren. Sturzfluten und Starkregen werden häufiger und heftiger. Ich habe neulich mit einem Freund in Kabul telefoniert, der mir sagte, dass die Straßen überflutet seien. So viel Regen ist für den Sommer in Afghanistan völlig ungewöhnlich. Naturkatastrophen treffen die ­vulnerabelsten Menschen am stärksten. Das Erdbeben im vergangenen Oktober in der Provinz Herat mit über 1.400 Toten war einzigartig – so etwas hatte es jahrzehntelang nicht gegeben. Arme Menschen leben oft auf dem Dorf, in einfachen Lehmhütten. Bei einem Erdbeben stürzen diese einfach ein, bei ­einer Überschwemmung werden sie weggeschwemmt. Doch die Menschen haben kein Geld für stabilere Häuser.

Wie könnte man ihre Lage verbessern?
Man müsste Dämme bauen oder Schutzmauern; irgendetwas, das die Dörfer vor einer Überschwemmung schützen kann. Überhaupt sollten Gebäude ­stabiler gebaut werden. So könnte man Prävention betreiben und müsste nicht viele Tote nach jeder Naturkatastrophe beklagen. Doch auch dafür fehlt leider das Geld, es übertrifft die Möglichkeiten der Regierung. Die Menschen wissen, dass sie in Gefahr sind. Sie haben Angst, aber keine Handhabe, an ­einen sicheren Ort zu ziehen. Seit dem Erdbeben in Herat leben dort auch noch viele Menschen in provisorischen Zelten und Behausungen oder in ihren teilweise zerstörten Häusern. Die Ressourcen fehlen, das wiederaufzubauen, was zerstört wurde.

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Shafi Ahmad Shirzad

Shafi Ahmad Shirzad

Bild:
Help - Hilfe zur Selbsthilfe

Shafi Ahmad Shirzad ist seit Juni 2024 ist Landesdirektor in Afghanistan der Bonner Hilfsorganisation Help – Hilfe zur Selbsthilfe. Zuvor hielt er sich zwei Jahre in Indonesien auf und unterstützte dort Geflüchtete. Seine berufliche Laufbahn verbrachte er durchweg im humanitären Sektor, arbeitete unter anderem auch für die International Organization for Migration (IOM) der UN in Kabul. Dort war er auch, als die Taliban 2021 die Macht über Afghanistan an sich rissen. Studiert hat er ursprünglich Business Administration. Aufgewachsen ist der 38jährige in der Provinz Herat nahe der iranischen Grenze, wo er auch derzeit lebt und arbeitet.