Ralph Leonard, britisch-nigerianischer Autor, im Gespräch über rechtsextreme Identitätspolitik

»Der Universalismus ist stark geschwächt«

Interview Von Paul Simon

Anfang August schockierten rassistische Ausschreitungen Groß­britannien. Die »Jungle World« sprach mit Ralph Leonard über die Ursachen der Gewalt.

Die Unruhen des vergangenen ­Monats wurden von einem Gerücht ausgelöst, der falschen Behauptung, dass es sich bei dem Täter, der am 29. Juli in der Stadt Southport drei Kinder erstach und weitere verwundete, um einen muslimischen Flüchtling gehandelt habe. Was sagt das über die Weltsicht der Krawallmacher aus?
Es zeigt, dass sie von einer Erzählung mobilisiert wurden, welche die extreme Rechte seit langem etabliert hat: dass Einwanderung schlimme Folgen habe, dass Migranten eine Bedrohung darstellen und dass die Politiker, die Einwanderung ermöglichen, damit die Nation verraten. Selbst nachdem mehr über den Täter von Southport bekannt geworden war, hielt dies die Krawallmacher nicht auf. Und einige der ersten Gewalttaten richteten sich zwar gegen Moscheen, doch letztlich war die Gewalt gegen jeden gerichtet, der als ethnisch anders empfunden wurde.

Was kann man also über die Ursachen für die Unruhen sagen?
Es ist kein Zufall, dass sie sich vor allem in den Midlands und im Norden Englands konzentrierten, oft in wirtschaftlich abgehängten Städten, die unter Deindustrialisierung litten. Orte wie Roth­erham zum Beispiel, das wegen des sogenannten grooming gang-Skandals bekannt wurde, die organisierte Vergewaltigung von Hunderten von Mädchen, die größtenteils »white British« waren, durch Kriminelle mit größtenteils pakis­tanischem Hintergrund. Ich erwähne das und formuliere es auf diese Weise, weil das ein schlagendes Beispiel für die Art von Ereignissen ist, die von der ex­tremen Rechten genutzt wurden, um rassistische Botschaften zu verbreiten. Jahrelang haben sie Verbrechen wie die in Rotherham mit der Massenein­wanderung in Verbindung gebracht und auf die – in Rotherham übrigens tatsächlich reale – Untätigkeit der Behörden verwiesen, um zu argumentieren, dass »die Regierung uns im Stich lässt«.

»Die Tories waren nicht ehrlich, als sie Jahr für Jahr versprachen, die Einwanderung radikal zu reduzieren, denn so wie die britische Wirtschaft funktioniert, braucht sie schlicht eingewanderte Arbeitskräfte.«

Mit »uns« ist in diesem Fall die englische oder britische Bevölkerung gemeint, in Klammern: »weiß«. So fachen sie die Ressentiments bestimmter Menschen an, vor allem in Gegenden mit wirtschaftlichen Problemen, wo die Menschen sich machtlos fühlen. Und wenn es keine politische oder soziale Infrastruktur gibt, durch die der Unmut kanalisiert wird, kommt er durch die Prismen von Kultur, Ethnie und Identität zum Ausdruck.

Kenan Malik schrieb im Guardian, dass es in vielen Städten, in denen es zu Unruhen kam, reale »Beschwerden der Arbeiterklasse« gebe, aber diese »durch eine nationale Debatte, die davon besessen ist, soziale Pro­bleme auf Einwanderer zu schieben, verzerrt werden«. Was denken Sie über diese Frage?
Nun, die Krawallmacher hatten eindeutig keine wirtschaftlichen Forderungen. Davon war bei ihnen nichts zu hören. Abgesehen von den beschriebenen ideologischen Motiven gab es auch ein großes opportunistisches kriminelles Element, es wurde geplündert. Wo es politische Anliegen gab, ging es nicht um ökonomische, sondern kulturelle, im Grunde rassistische. Das ist auch die Sprache derjenigen aus dem konservativen Lager, die später argumentierten, die Krawalle seien eine vorhersehbare Reaktion auf die gebrochenen Versprechen der britischen Regierungen gewesen, die Einwanderung zu reduzieren. Was übrigens durchaus stimmt, obwohl es natürlich keineswegs die Gewalt rechtfertigt.

Inwiefern stimmt das?
Die Tories waren 14 Jahre an der Macht und haben stets versprochen, die Einwanderung zu reduzieren. Auch bei der Abstimmung über den Austritt aus der EU wollten viele die Einwanderung verringern – »die Kontrolle über unsere Grenzen zurückzugewinnen«. Stattdessen erreichte die Zuwanderung von außerhalb der EU nach dem »Brexit« ein Rekordhoch. Die Rechtsextremen sagen dann, dass das zeige, wie die Regierenden das Volk verraten und belügen.
Und die Tories waren tatsächlich nicht ehrlich, als sie Jahr für Jahr versprachen, die Einwanderung radikal zu reduzieren, denn so wie die britische Wirtschaft funktioniert, braucht sie schlicht eingewanderte Arbeitskräfte, und obwohl die Tories eine Kampagne gegen Asylsuchende führten, waren sie nicht gegen legale Einwanderung in den britischen Arbeitsmarkt. Migration ist eine Realität des globalisierten Kapitalismus, aber ein Großteil der Rechten kann das nicht akzeptieren.

Es erinnert daran, wie sich derzeit in Deutschland Regierung und konservative Opposition in Reaktion auf die Wahlerfolge der Rechtsextremen mit Forderungen und Versprechen überbieten, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren – auch wenn das kaum möglich ist.
Die Tories taten etwas Ähnliches mit dem gescheiterten Plan, Flüchtlinge für ihre Asylverfahren nach Ruanda zu bringen. Das war nicht nur aus moralischer, sondern auch aus praktischer Sicht eine Farce – sie haben sozusagen eine Illusion verkauft. Und die Rechtsextremen können sagen: Seht ihr, sie lügen euch an!

Im New Statesman schrieben Sie, dass die Unruhen das Ergebnis eines gewalttätig gewordenen Verständnisses »ethnischer englischer Identität« seien. Was hatten die Riots speziell mit englischem Nationalismus zu tun?
Die Krawalle fanden in England statt, nicht in Schottland oder Wales. In England konzentriert sich auch der größte Teil der Einwanderung und der ethnischen Diversität in Großbritannien, während Schottland und Wales immer noch sehr »weiße« Länder sind, ungefähr so wie England in den Siebzigern. Das liegt zum Teil an London, das schon seit langem eine majority minority-Stadt ist, um einen in den USA gebräuchlichen Begriff zu verwenden. Viele englische Städte, in denen es zu Ausschreitungen kam, sind ebenfalls sehr stark von Einwanderung geprägte Industrie- beziehungsweise eher Postindustriestädte, zum Beispiel Birmingham, dessen Bevölkerung etwa zur Hälfte aus »nichtweißen« Engländern besteht. Nicht nur deshalb stellt sich heute die Frage, was »Englischsein« überhaupt noch bedeutet, zumal das Label »britisch« längst für einen postimperialen civic nationalism steht (der Begriff meint einen Nationalismus, der nicht ethnozentrisch ist; Anm. d. Red.)
Die Antwort der Rechtsextremen darauf lautet, die englische als eine im wesentlichen weiße Identität zu beschreiben und die Engländer als eine bedrängte ethnische Mehrheit, deren Kultur durch die Masseneinwanderung und den demographischen Wandel bedroht sei. Die Behauptung, die der Mobilisierung zu den Krawallen unbewusst zugrunde lag, ähnelt dem, was Teile der extremen Rechten als Theorie des »Großen Austauschs« propagieren; zumindest herrscht hier die Überzeugung, dass der in England etablierte Multikulturalismus asymmetrisch sei und ethnische Minderheiten zum Nachteil der einheimischen Engländer privilegiere. In diesem Sinne waren die Unruhen das Ergebnis eines exklusiven ethnischen Verständnisses von English­ness – das glücklicherweise nur eine Minderheit teilt.

Sie haben auch argumentiert, dass dieser ethnische Nationalismus mit der heutigen Identitätspolitik zusammenhängt. Inwiefern?
Wenn gesellschaftliche Probleme immer mehr durch das Prisma von Gruppenidentitäten betrachtet werden, ist es nicht verwunderlich, dass sich auch die extreme Rechte dieser identitären Sprache bedient. Rechtsextreme Ideologen haben sich den Identitarismus bewusst zu eigen gemacht, es gibt die »Identitäre Generation« und so weiter. Gleichzeitig sind gesellschaftspolitische Bewegungen, die über eine identitäre Politik hinausgehen, sei es der Sozialismus, die Gewerkschaften oder sogar der altmodische Liberalismus, verschwunden oder zumindest stark geschwächt.

»Die linke Identitätspolitik hat der Identitätspolitik im Namen einer weißen Mehrheit wenig entgegenzusetzen.«

Das Ergebnis ist, dass Anliegen zunehmend in Identitätsbegriffen ausgedrückt werden, auch von der extremen Rechten. Das Problem der linken Identitätspolitik besteht darin, dass sie die Menschen dazu bringt, sich selbst stärker in rassischen und identitären Begriffen zu sehen, was die Rassifizierung der Gesellschaft befördert. Die linke Identitätspolitik hat der Identitätspolitik im Namen einer weißen Mehrheit ­wenig entgegenzusetzen, und in dem Maße, in dem sie die Menschen dazu bringt, über sich selbst in Begriffen von Rasse zu denken, ist sie selbst regressiv.

Wie nahmen Sie die politischen ­Reaktionen auf die Unruhen wahr?
Einige Rechtspopulisten haben die Krawalle zwar verurteilt, aber gleichzeitig ausgedrückt, dass sie die Vorstellungen, die der Mobilisierung zugrunde lagen, im Grunde teilen. An der Regierung kritisiere ich, dass die Justiz nicht nur gegen Krawallmacher und Aufrührer vorging, sondern auch gegen sogenannte hate speech, was gefährlich ist.
Ich denke, dass die Labour-Partei von den Krawallen wirklich überrascht und verängstigt war.

Schließlich hatte sie gerade erst einen deutlichen Wahlsieg errungen …
… und innerhalb eines Monats dann diese Unruhen. Aber auch, weil sie wissen, dass auch sie ein Feindbild der Rechtsextremen sind: die sogenannten liberalen Eliten, die sich angeblich mehr um Minderheiten und Einwanderer sorgen als um ihr eigenes Volk. Denken Sie zum Beispiel an die Labour-Abgeordnete Helen »Jo« Cox, die 2015 von einem Faschisten ermordet wurde.

Was wäre also zu tun?
Ich habe den »Großen Austausch« erwähnt. Dieser Geist ist sozusagen aus der Flasche: Es sind nicht mehr nur verrückte Neonazis oder französische Intellektuelle der Nouvelle Droite, die solche Dinge sagen, es dringt immer mehr in den Mainstream vor, und die Identitätspolitik der Linken ist dem wie gesagt nicht gewachsen. Das Einzige, was dem wirksam entgegenwirken kann, wäre eine neue soziale Vision, die universalistisch sein und auf Solidarität beruhen müsste.

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Ralph Leonard

Ralph Leonard ist ein britisch-nigerianischer Autor. Seine Texte über politische und kulturelle Themen und Ideengeschichte erschienen unter anderem bei Unherd, The New Statesman und Sublation Magazine.

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