Kurt Tallert rekonstruiert die Verfolgungsgeschichte seines Vaters

Ein Memory für den Vater

Buchkritik Von Elias Angele

Anhand der Spuren, die seine von den Nazis verfolgten Familienmitglieder hinterlassen haben, versucht Kurt Tallert eine Art historischer Familienaufstellung, die ihn immer wieder auf essayistische Abwege führt. Hannah Arendt und Heinrich Heine befeuern seine Gedanken ebenso wie James Baldwin und die Gravediggaz.

Kurt Tallert geht in die Vergangenheit zurück. Der Autor ist vielen vermutlich eher als »Retrogott« bekannt, der seit über 20 Jahren in der HipHop-Szene aktiv ist. Die Zeiten von provokativem Battle Rap und »Hurensohnologie« sind aber schon lange vorbei und er widmet sich mittlerweile seiner Familiengeschichte.

Wie konnte die jahrelange Hetze im Nationalsozialismus mit dem verlorenen Krieg vermeintlich so schlagartig enden? Wie prägt einen das Erleben der Vorfahren, mit denen man selbst nie in Berührung kam? 

In seinem literarischen Erstling »Spur und Abweg« geht es um seinen Vater Harry: 1927 geboren, wurde diesem im Nationalsozialismus die jüdische Herkunft des Vaters zum Verhängnis. Verfolgt als sogenannter Halbjude, kam Harry gegen Ende des Kriegs in Gestapo-Haft und musste Zwangsarbeit leisten.

Andere Familienmitglieder wurden deportiert und von den Nazis ­ermordet, manche überlebten mit viel Glück. Genaueres über die Familiengeschichte persönlich von seinem Vater zu erfahren, war dem Musiker nicht vergönnt. Als er geboren wurde, war sein Vater 58 Jahre alt, zwölf Jahre später starb er an Krebs. Kurt war damals zu jung, um Fragen zu stellen.

Tallert verfolgt die Geschichte seines Vaters zurück in die Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus sowie des geteilten und schließlich des vereinigten Deutschland, »wahrscheinlich um meinen Vater lebendig zu halten, aus Angst, es könnte noch mehr von ihm verloren gehen«.

Deutsch-jüdische Familiengeschichte im historischen Kontext

Anhand der Spuren, die seine Familienmitglieder hinterlassen haben, versucht er eine Art historischer Familienaufstellung, die ihn immer wieder auf essayistische Abwege führt, um für die Ereignisse Erklärungen zu finden – Hannah Arendt und Heinrich Heine befeuern seine Gedanken ebenso wie James Baldwin und die Gravediggaz. Wie konnte die jahrelange Hetze im Nationalsozialismus mit dem verlorenen Krieg vermeintlich so schlagartig enden? Wie prägt einen das Erleben der Vorfahren, mit denen man selbst nie in Berührung kam? 

Tallerts Buch ist der Versuch, eine deutsch-jüdische Familiengeschichte in ihrem historischen Kontext, ihren Auswirkungen auf die Gegenwart und nicht zuletzt auf sich selbst zu verstehen.


Buchcover Kurt Tallert

Kurt Tallert: Spur und Abweg. Dumont, Köln 2024, 240 Seiten, 24 Euro