Der Geschmack der Kindheit

Die Geburt des Systems Kohl aus dem Geiste der nicht gesicherten Alimentation. Wie der kleine Helmut Hühner dressierte, Aprikosen naschte und den Speck gerechter verteilte.

Es ist die Kindheit. Sie spielt mit uns. Dann zieht sie den Vorhang zu. Es ist die Erinnerung. Sie ist unsere größte Feindin. Schließlich ist das Vergangene nur noch als ferner Geruch lebendig, der durch ein verbotenes Zimmer streicht: »Das ganze Haus duftete nach Mandeln und Vanillezucker, nach Zitronat und zerlassener Butter, und schon der frische, noch nicht abgebackene Teig schmeckte köstlich.« Es ist Helmut Kohl selbst, der in seinen Jugenderinnerungen solcherart nach Ludwigshafen blickt; die Biografen des Altbundeskanzlers wissen vor allem von seiner frühen Jugend im Ton freundschaftlicher Schmähungen zu berichten.

Ludwigshafen, Hohenzollernstraße 89, 3. April 1935. Der kleine Helmut hat Geburtstag. Trotzdem steht er in einem der sieben Zimmer der elterlichen Wohnung und weint. Helmut hat sich ein Laken um die Schultern gelegt und den Kaffeewärmer auf den Kopf gesetzt - aber niemand spielt mit ihm. Wie ein Prinz steht der Fünfjährige im Flur, doch da ist niemand, dem König die Schleppe zu tragen. Zwei Jahre später, auf einem Klassenfoto von 1937, mit auffallend dunklen Augen und einem kleinen, wie selbst geschnitzt wirkenden Kopf, macht Kohl den traurigen Eindruck des ständig zurückgewiesenen Kindes.

Schutz vor ähnlichen Zurückweisungen erfährt Kohl in der Familie. Doch so sehr sein Vater von einigen Chronisten als Persönlichkeit in die Landschaft gemalt wird, der dem kleinen Helmut Vorbild ist oder Fels in der Brandung - Hans Kohl sieht eher aus wie ein Kurgast, wenn er sich auf sein altes Fahrrad schwingt, die Hosenbeine mit glänzenden Fahrradspangen festgeklammert. So fährt Hans Kohl, der Steuerobersekretär beim Finanzamt Ludwigshafen, zur Arbeit. Auch im Krieg ist er nicht »stark« oder im ethisch-obszönen Sinne ein »Held»; die Familie ist katholisch, aber nicht deutschnational. Kaum zum Stadtkommandanten einer polnischen Ortschaft bestellt, wird Hans Kohl wegen eines Herzleidens entlassen. Und die Einberufung zum Chef des Volkssturms kommt zu einem Zeitpunkt, an dem er nur noch dessen Auflösung bekannt geben kann.

Allen Wirrungen zum Trotz begrüßt der Vater jeden Samstag das Wochenende mit einem großen Krug Bier - geholt hat es jedes Mal der kleine Helmut. Und der isst gern. Biografen wie Karl Hugo Pruys sprechen sogar von Naschsucht, und unumstritten sind Kohls eigene Erinnerungen aus dieser Zeit dort am konkretesten, wo es um das Aufnehmen von Mahlzeiten geht. Es bleibt festzuhalten, dass es diese Form mütterlicher Ernährung ist, die dem ganz jungen Kohl Genugtuung verschafft. Noch Jahrzehnte später kann er jede einzelne Plätzchensorte aufzählen, die es zum Weihnachtsfest aus Mutters Küche gab - Spekulatius, Spritzgebackenes, Zimtwaffeln. Kohl stellt also sein weiteres Dasein auf die Basis guten Essens. Die Zukunft, der er angehören will, soll aus einem engmaschigen Netz von Alimentationen handeln.

Erst einmal aber verdunkelt der Krieg die Zeit. Helmut Kohls älterer Bruder Walter wird während des Aufenthaltes an einem Verschiebebahnhof im Ruhrgebiet am letzten Kriegstag vom Mast einer Starkstromleitung erschlagen. Der Alltag, so Kohl in seinen Jugenderinnerungen, wird dadurch »dunkler, schmerzlicher, beklemmender«. Eine tiefe Unruhe brennt in ihm wie eine Entzündung. Helmut Kohl selbst landet schließlich, im Winter 1944, am Obersalzberg, wo er in der so genannten Nebelkompanie dafür Sorge zu tragen hat, dass Hitlers Alpenfestung ständig von Dunst umgeben und damit für alliierte Geschwader nicht zu identifizieren ist.

Direkt nach Kriegsende, während der - nach späterer Selbstauskunft - längsten Wanderung seines Lebens, fällt Helmut halbbetrunkenen befreiten polnischen Zwangsarbeitern in die Hand und wird von ihnen kräftig verprügelt. Danach bietet sich ihm ein Bild des Zusammenbruchs. Es ist keine Ordnung mehr. Als er dann endlich, er ist Kriegsheimkehrer, das Haus seiner Eltern erreicht, bittet er seine Mutter als erstes um Aprikosen, die er mit großer Hast verschlingt. Spätestens von diesem Zeitpunkt an werden gutes Essen und annehmbare Lebenswelt in seinem Denken in eins gesetzt. Ein gutes Leben wird dabei als eines gedacht, in dem der warme Kakao den entbehrungsreichen Stunden zum Trotz literweise fließt.

Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bedeutet für den jungen Kohl die Möglichkeit immer gegenwärtiger, behaglicher Nahrungsaufnahme. Um diese Möglichkeiten zu erhalten, zu wahren und auszubauen, bedarf es eines eigenen Systems. Dieses System entwickelt Kohl mit größerer Entschlossenheit nach den verhängnisvollen Erfahrungen körperlicher Arbeit im Jahr 1945.

Einen Sommer verbringt er auf einem Bauernhof in Düllstadt, eine Zeit, über die nur wenig von wirklich ernst zu nehmenden Zeugen verbürgt ist. Sein Wochenlohn für Ernten, Pflügen, Säen beträgt jedenfalls exakt 30 Mark; leicht wird dem 16jährigen die, wie er selbst es später nennt, »Sauarbeit« mit den sechs Pflugochsen nicht gefallen sein. Dann kommt Helmut Kohl nach Hause zurück und ändert sein Leben.

Den Grundstein für den notwendigen Aufbau des schon beschriebenen, ihm eigenen Systems der ständigen Alimentierung legt überraschenderweise die Tierzucht. Sie hat es dem frühen Kohl schon lange angetan. Oft erzählt sind die Momente im Leben Kohls, in denen er dreißig, vierzig Kilometer mit dem alten Fahrrad seines Vaters fährt, um einer Häsin einen besonders prämierten Rammler zuzuführen. Ein Huhn richtet Kohl dabei dergestalt ab, dass es wie hypnotisiert über einen Kreidestrich wandelt, auf Zuruf mit den Füßen scharrt, gackert und mit den Flügeln flattert. Aus der Fremde des Bauernhofs zurückgekehrt, wird diese Form der Tierliebe zum Katalysator erster Freundschaften zu Gleichaltrigen: Das System Kohl ist geboren.

Erstmalig berichten die Biografen nicht nur von Zurückweisungen, sondern von Anknüpfungspunkten. Der junge Pfälzer baut mit einem Freund eine Seidenraupenzucht auf, fischt Krebse aus dem Rhein und tauscht den Gewinn gegen Zigaretten: Das System kommt zum ersten Mal zum Einsatz. Und interessanterweise wächst Helmut in dem Maße, wie sein System gedeiht und erste Alimentationen auch außer Haus sicherstellt. Und er wächst unglaublich rasch. Bald, im Herbst 1946, ist er schon nicht mehr der kleine Helmut, sondern einen Meter dreiundneunzig groß. Als habe sich seine Körpergröße innerhalb eines Sommers verdoppelt, schlingt der Sechzehnjährige seine überproportional großen Extremitäten vor Verlegenheit um den eigenen Leib. Und von der Stellung des Außenseiters fehlt seit diesem Tag wahrlich jede Spur. Mit dem Aufbau des Systems verändert sich auch der, den es trägt.

Auf welche Art Kohl die für sein Gefüge der Alimentation notwendige Nutznießerschaft sicherzustellen weiß, belegt eine Geschichte: Helmut Kohl kommt in eine neue Schulklasse. Das Gebäude weist schwere Kriegsschäden auf. Notdürftig sind die Fenster mit Presspappe vernagelt, Regen dringt durch die Decke. Der Gymnasiast wendet sich an die Schulleitung. Er und seine Mitschüler würden den Raum in eigener Regie wiederherstellen, dafür wünschen sie jedoch, bis zum Abitur darin bleiben zu dürfen. Der Rektor willigt ein, kurz danach stehen Dachpappe, Bretter, Zement, Kalk, Sand, Fensterglas, Malerfarbe und Beschläge vor der Tür. Auch findet sich ein Dachdecker, das Werk zu beenden. Niemand fragte, woher der Erbauer das Material hat. Doch nach wenigen Tagen hatte die Klasse das schönste Klassenzimmer der Schule.

Erste Zuweisungswege und Reglementierungsformen werden aufgebaut und vervielfältigt, schließlich verselbstständigen sie sich schnell. Der junge Kohl ist ein praktischer Mensch; zudem erweist sich sein Handeln als verblüffend unideologisch insoweit, als es sich von trübenden äußeren Umständen zu entkoppeln sucht und sich Dingen wie der Nahrungsaufnahme und den Fragen ihres eigenen Erhalts zuwendet. Das System Kohl erblüht. Politik, wie sie sich in der Lebenswelt des Klassenverbandes zeigt, wird Kohl zur Basis eines schnellen Ausbaus der ihm eigenen Alimentations-Anordnung. Auch als Klassensprecher achtet er fortan darauf, dass es für alle Beteiligten von Vorteil ist, sich ihm anzuvertrauen. Dass sein Nutzen dabei nicht zu kurz kommt, versteht sich von selbst.

Dabei bleiben Fragen der Nahrungsaufnahme äußerst zentral: Die tägliche Linsensuppe, die von der Hoover-Stiftung in den Pausen serviert wird, schmeckt seltsam dünn und fad. Kohl findet heraus, dass sich die Lehrer zuerst selbst bedienen und den Speck aus der Suppe fischen, ehe sie die dünne Brühe an die Schüler weitergeben. Er beschwert sich in einer Art bei der Schuldirektion, die es dieser angezeigt sein lässt, den Missbrauch einzustellen. Kohl bringt begabtere Schüler dahin, schwächere bei ihnen abschreiben zu lassen. Streber werden gebremst. Zwischen den Murmeln tauschenden Jungen des Schulhofs entdeckt Kohl die Fähigkeit, Gruppen zu führen, zusammenzuhalten, sich mit ihrer Hilfe - und ihnen helfend - nach oben zu arbeiten. Niemand hat etwas dagegen: Der ganze Klassenverband bekommt das Abitur.

Dieses System aus Wissen und Schweigen, Zusammenhalt und gegenseitiger Nutznießerschaft hat Kohl fortgeführt. Es hat ihn herausgeführt aus einem Raum, den er in wenigen Minuten durchqueren konnte. Aus einer Stadt schließlich, die der Ludwigshafener Ernst Bloch als »Zwickau ohne Hemmungen« beschrieben hat. Das System Kohl, dessen mediale Enttarnung jetzt an vielen Orten zu bestaunen ist, hatte Nutznießer und Mitwisser, die niemand zählen will. Den Preis für ihr Abitur haben sie gekannt.

Nun aber hat die Forderung, ein Schweigen zu brechen und dann nie wieder zu reden, ausgerechnet Helmut Kohl ereilt. Wer an die Erfüllbarkeit dieser Forderung glaubt, verkennt, dass es die Kindheit ist, die einen Grundstein legt für unser Verhalten, und sei es als ferner Geruch. Hätte das Kind Kohl jemals Vertrauen gebrochen, er würde noch heute in Ludwigshafen sitzen - in dem »Fabrikschmutz, den man gezwungen hat, Stadt zu werden« (Ernst Bloch).

Hier steht es übrigens noch heute, das Haus mit den sieben Zimmern, in dem der kleine Helmut an seinem Geburtstag einmal weinte. Stumm duckt es sich in die Hohenzollernstraße 89, zwischen einer Metzgerei, einem Blumengeschäft und einer Videothek mit lindgrüner Fassade. Und niemand weiß, wie viele Jahrzehnte zwischen allem liegen, und niemand schaut auf seine Uhr.

Klaus Dreher: Helmut Kohl - Leben mit Macht. DVA, Stuttgart 1998, 671 S., DM 58
Karl Hugo Pruys: Helmut Kohl - Die Biographie. edition q, Berlin 1995, 574 S., DM 58