Hubertus Siegerts »Berlin Babylon«

Bau auf!

Hubertus Siegerts filmische Langzeitstudie über die Großbaustelle Berlin.

Man bedient die kommerzielle Seite und orientiert sich an kleinteiligen Strukturen.« Wenn Bauherr Wolfgang Nagel die gewachsenen städtischen Quartiere, wie sie beispielsweise rund um die Oranienburger Straße, die Auguststraße und die Hackeschen Höfe in Berlin zu finden sind, als »städtischen Humus« bezeichnet und auf dem Ödland vor dem Tacheles Senatsbaudirektorin Barbara Jakubeit die Möglichkeiten eines »intelligenten Städtebaus« erläutert, dann wirkt das fast wie eine kabarettistische Einlage. Das laute Nachdenken über den modernen Städtebau stammt aus Hubertus Siegerts Doku-Essay »Berlin Babylon«. Kein Kommentar stört die Bilder, die Architektur, die Musik der Einstürzenden Neubauten, und die Architekten und Bauherren sprechen für sich. Intelligenter Städtebau?

Angesichts der Verkehrsprobleme moderner Großstädte mit funktionalen Geschäfts-, Wohn- und Industriezonen erscheint der Begriff wie ein Witz.

Im Tiefflug über Berlin, langsam, wie in der Anfangssequenz von Ridley Scotts »Blade Runner«, schwebt die Kamera über die flache Stadt, Richtung Alexanderplatz. An den Blinklichtern des rot-weiß geringelten Sendemastes saugt sie sich fest. Da steigt ein Arbeiter über eine Leiter nach unten und mit ihm schwenkt der Blick in die Tiefe. Die Stadt, ihre Straßen, Plätze, Häuser, liegen ausgebreitet wie auf einem Tablett. Die Modellbäume des Architekten Axel Schultes kommen ins Bild. Am Telefon jammert der Schöpfer des neuen Kanzleramtes über das Lamento gegen die überzogene Bausumme. Dann sieht man Schultes, seine Bäume in der Hand, mit Senatsbaudirektorin Barbara Jakubeit vor einem Modell der Stadt über die Zukunft plaudern. Sie malen sich aus, wie ganze Schulklassen das Kanzleramt als politisches Symbol bestaunen werden.

Seit dem Fall der Mauer befindet sich Berlin in einem rasanten Umbau, bei dem Repräsentationsfunktionen zuweilen kuriose Baublüten in den Himmel treiben. Ist Berlin zum Inbegriff des architektonischen Fortschritts geworden? An steinernen Superlativen wird jedenfalls nicht gespart. Beim neuen Kanzleramt mit seiner grandiosen Fassade klingen zumindest die Zahlen überwältigend: »465 Millionen Mark Baukosten, 36 Meter Höhe, 370 Büros und ein 335 Meter langer Südflügel«. Der opulente Bau, die »Villa zur Macht«, wie die Süddeutsche Zeitung schrieb, setzt ein pompöses Zeichen für politische Macht.

»Berlin Babylon« ist ein hoch aktueller Film, angesichts des postmodernen Größenwahns und des Ablebens mythischer Stadtutopien. Schon früher zeugten utopische Filme, etwa Fritz Langs »Metropolis«, von der Ambivalenz zwischen Bewunderung und Schauer. Walther Ruttmanns »Berlin. Die Sinfonie der Großstadt« und Dsiga Wertows »Der Mann mit der Kamera« entwarfen mit schnellen Kamerabewegungen, extremen Perspektiven und Doppelbelichtungen urbane Utopien. Sie fungierten als Modelle für den Mythos Moderne und schraubten reale und filmische Visionen in die Höhe. Kein Wunder, dass die Repräsentationsbauten am Potsdamer Platz eher wie unbewohnbare Filmkulissen wirken.

Hubertus Siegert hat Berlins Bauprozesse über mehrere Jahre begleitet und Architekten sowie Städteplanern bei der Arbeit zugesehen. Von 1996 bis 1999 hat er mit drei Kameramännern teilnehmend beobachtend auf 35mm gedreht. All diejenigen, die mit der Gestaltung der steinernen Zukunft der Hauptstadt befasst sind, Senatsbaudirektoren, Stadtentwickler und Architekten wie Meinhard von Gerkan, Hans Kollhoff, Renzo Piano und Rem Koolhaas, kommen zu Wort.

Lediglich das Stimmengewirr der Bauarbeiter sorgt für Abwechslung. Drei Blickwinkel sind dem Diplom-Landschaftsplaner und Dokumentarfilmer (»Stravinsky in Berlin«) wichtig. Zuerst der rasante Wandel des innerstädtischen Ödlandes am Potsdamer Platz in die größte Baustelle der Republik, dann der »babylonische Charakter der ganzen Berliner Unternehmung«, der Wirrwarr von Bauherren und Bauarbeitern, die die Leere füllen und drittens die »Überschichtung« der deutschen Geschichte über Nazizeit und DDR-Ära. Augenfällig sind die ersten beiden Aspekte im Film eingelöst, während der letzte sich nur schwer über die Bilder erschließt. Aber es stimmt. »Man muss sich beeilen, die Stadt noch ungeschminkt zu erleben, bevor sie ganz geliftet ist - und zugebaut«, sagt Hubertus Siegert.

Die Prominenz aus Politik und Gesellschaft tritt auf, beispielsweise beim Richtfest am Potsdamer Platz. Wenn Architekt Helmut Jahn wie ein apokalyptischer Reiter - mit schwarzem Hut, langen Gehrock und Koffer auf Rädern - aus Chicago einfällt und seinen gläsernen Rundbau mit Zeltdach in kühler Architektensprache als »Vision eines Stadtraumes an der Schwelle zum 21. Jahrhundert« preist, wirkt das seltsam unecht, fast wie ein ironischer Kommentar. Ein paar Filmmeter weiter werden die nutzlosen Innenräume besichtigt, die der gläserne Bau in ihrer bizarren Form vielfach übereinander stapelt. Wenn ein Mann in einem Ruderboot auf einem stillen Bausee das Weite sucht, fällt einem das Brecht-Wort von der »Schwärmerei für die Natur« und »der Unbewohnbarkeit der Städte« ein.

Die dokumentarische Langzeitstudie zeigt Berlin als große Baustelle, über und unter der Erde. Die feine Ironie, die den Strom der Bilder begleitet, spielt auf den Größenwahn des »Neuen Berlin« zwischen formaler, räumlicher und technischer Ordnung an, während die Walter Benjamin-Miniatur vom »Engel der Geschichte« - im voice-over zum Sturm der Bilder rezitiert - auf die Unaufhaltsamkeit des geschichtlichen Fortschritts verweist. Zwischen den Baustellen, den Heldenplätzen für die »Männer des schnellen Zugriffs«, schwebt die Kamera durch Ostberliner Straßen, die Optik oft frontal nach vorn gerichtet, mal fährt sie durch Hinterhöfe, mal seitlich an Baustellen und Fassaden vorbei.

Einmal zeigt sie, wie unter Wasser betoniert wird, dann gewährt sie den Panoramablick leicht schräg von oben auf Straßen, Plätze und Gebäude. Da klirren die berstenden Fensterscheiben einstürzender Plattenbauten, dann kippen die Fassaden nach rechts aus dem Bildfeld. Den Filmbildern ist gelegentlich ein eigentümlicher Verfremdungseffekt zu Eigen; die unvorstellbare Spannung, die die Plattenbauten zum Umkippen bringt, überträgt sich auf den ganzen Film.

»Berlin Babylon«. R: Hubertus Siegert