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In Belgien spielt sich die politische Auseinandersetzung zunehmend entlang der Sprachgrenze ab. Seit fünf Monaten gelingt nicht einmal mehr die Regierungsbildung. von tobias müller, amsterdam
Sein Ton war dramatisch. Von einer »Aggression gegen die Frankophonen« sprach Didier Reynders und davon, dass der »Pakt der Belgier« in Gefahr sei. Was den Vorsitzenden des liberalen wallonischen Mouvement Réformateur (MR) Anfang November derart empörte, war eine Abstimmung in der Inlandskommission des belgischen Parlaments. Mit den Stimmen der flämischen Delegierten wurde dort ein Gesetzesvorschlag angenommen, den zweisprachigen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) zu trennen.
BHV, seit Jahrzehnten ein innenpolitisches Dauerthema, ist einer der heikelsten Streitpunkte zwischen Flamen und Wallonen. Sämtliche Vertreter der französischsprachigen Bevölkerung hatten zuvor aus Protest den Saal verlassen. Damit setzten erstmals in der belgischen Geschichte die Abgeordneten einer Sprachgruppe mittels ihrer Mehrheit in einem politischen Gremium ihre Interessen durch.
Die seit fünf Monaten andauernden Koalitionsverhandlungen sind spätestens seitdem vom Konflikt entlang der Sprachgrenze gekennzeichnet: inhaltliche Differenzen treten zumindest vorübergehend in den Hintergrund, und zurück bleibt das Primat der Identitätspolitik. In der französischsprachigen Tageszeitung Le Soir war am Tag nach der Abstimmung zu lesen: »Das Bild der flämischen Volksvertreter, Blokkers (die rechtsextreme Partei Vlaams Belang, T.M.) und Demokraten zusammen, die mit erhobener Hand in einem Saal ohne Frankophone abstimmen, ist in unser Unterbewusstsein eingraviert.«
Diese Rhetorik hat nicht erst mit diesem Votum Einzug in die Debatte gehalten. Bereits im Spätsommer wurden die Koalitionsverhandlungen zwischen den Christdemokraten und den Liberaldemokraten wegen des Konflikts zwischen den Sprachgruppen für einen Monat unterbrochen. Nach der Wiederaufnahme wurden zunächst einige Teilabkommen in der Migrations-, Justiz- und Außenpolitik geschlossen.
Doch je mehr es um die so genannten kommunitären Themen ging, desto mehr Raum nahmen die Konflikte, auch innerhalb der Christdemokraten und der Liberalen, entlang der Sprachgrenze ein. Formulierungen wie »wir alle auf flämischer Seite«, so der Innenminister der flämischsprachigen Landesteile, Marino Keulen, oder der immer wieder geäußerte Verweis auf die »frankophone Linie« zeugen von der Konjunktur, die Identitätspolitik auf beiden Seiten hat. Eine Allianz zwischen den wallonischen und flämischen Mitgliedern einer Partei ist derzeit eine absurde Vorstellung.
Immerhin sind inzwischen auch einige inhaltliche Standpunkte der verhandelnden Parteien bekannt geworden. Beim Thema Migration befanden sich die wallonischen Christdemokraten (CDH) im Streit mit den übrigen Parteien, als sie – vergeblich – eine gesetzliche Regelung für Sans Papiers forderten. Im Bereich Justiz lieferten sich die wallonischen Christdemokraten anschließend eine Auseinandersetzung mit den flämischen Liberalen (VLD) um die Altersgrenze des Jugendstrafrechts. Ansonsten war man sich darüber einig, 2 000 neue Gefängniszellen und mehr Jugendstrafanstalten zu bauen und die Möglichkeit, Reststrafen auf Bewährung auszusetzen, zu beschränken. Sowohl die sozialdemokratische als auch die grüne Partei der jeweiligen Sprachgruppe warnte bei der Eröffnung des parlamentarischen Jahres im Oktober vor einem Rechtsruck unter der möglichen Koalition aus Christdemokraten und Liberalen.
Im komplexen Wechselspiel zwischen Inhalten und Identitätspolitik ist ein weiteres Detail von entscheidender Bedeutung: Sowohl die Abgeordneten des liberalen wallonischen Mouvement Réformateur als auch ihre Partner, die französischsprachigen Liberalen (FDF), hatten für den Fall einer einseitigen Abstimmung der Flamen mit dem unmittelbaren Ende der Gespräche gedroht. Dass sie nach dem Eklat aber dann dennoch, genauso wie die flämischen Abgeordneten, beteuerten, weiter verhandeln zu wollen, liegt in ihrem gemeinsamen Interesse begründet, eine Regierung ohne die Sozialdemokraten zu bilden. Daher sind sie zu einer Zusammenarbeit quasi verdammt.
Dem entgegen steht, dass vor allem die flämischen Christdemokraten (CD&V) im Wahlkampf darauf gesetzt hatten, weitere staatliche Befugnisse auf die Ebene der drei Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel zu übertragen – und genau damit einen fulminanten Sieg davongetragen haben. Seit 1970 haben bereits fünf »Staatsreformen« nicht nur eine administrative Dezentralisierung bewirkt, sondern auch ihre Spuren in der politischen Kultur hinterlassen. Vor allem dem latenten flämischen Nationalismus verleiht dies eine institutionelle Dimension. Der Partei CD&V verschaffte diese Akzentuierung ihren politischen Erfolg nach acht Jahren in der Opposition. Zudem bildete sie erstmals bei einer föderalen Wahl einen Zusammenschluss mit der separatistischen Partei Neu-Flämische Allianz (N-VA).
Auch die liberale VLD fordert eine Regionalisierung, ebenso wie die Wahlverlierer, die flämischen Sozialdemokraten. Auch die Sozialdemokraten haben versucht, Sympathien innerhalb des flämisch-nationalen Klientels zu gewinnen, indem sie sich mit der linksnationalen flämischen Partei Spirit zusammengetan haben: Schließlich sind Spirit und N-VA aus der im Jahr 2001 an einem Richtungsstreit zerbrochenen nationalistischen flämischen Volksunie hervorgegangen. Auf wallonischer Seite verfolgt der liberale MR eine ähnliche Strategie mit seiner Kooperation mit der FDF, der Partei der französischsprachigen Liberalen. Deren Vorsitzender Olivier Maingain, der den flämischen Unterhändlern meist besonders unversöhnlich gegenübertritt, wird gelegentlich als »Pitbull« des MR-Vorsitzenden Reynders bezeichnet.
Gemeinsam ist flämischen und wallonischen Identitätspolitikern auch die Reflexhaftigkeit, mit der ein Zusammenrücken der jeweiligen Gegenseite ebenfalls mit einem Schulterschluss beantwortet wird. So erklärten die frankophonen Parteien kurz nach der flämischen Abstimmung das Thema des zweisprachigen Wahlkreises BHV ihrerseits zu einem »Interessenkonflikt«, womit die Frage für mindestens zwei Monate aufgeschoben wird. Bei den Beratungen indes gerieten sich frankophone Liberale und Sozialdemokraten in die Haare und warfen sich gegenseitig Spaltung und Ausverkauf der wallonischen Interessen vor. Auf der Gegenseite verhält sich auf diese Weise für gewöhnlich der rechtsextreme Vlaams Belang.