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Die Zeitschrift Agit 883 war das wichtigste Szeneorgan der westdeutschen Linken zu Beginn der Siebziger. Ein Reader dokumentiert die Zeitschrift. von gerhard hanloser
Andere Zeiten. In der Tat: andere Zeiten! Diesen Gedanken wird man nicht los, wenn man das so liebevoll gestaltete wie inhaltlich erhellende Buch über die Agit 883, eine der skurrilsten und wichtigsten Zeitschriften des Berliner subkulturellen Underground der frühen siebziger Jahre, in den Händen hält. Darüber hinaus kann man noch sämtliche Ausgaben der Zeitschrift auf einer CD-Rom betrachten.
Agit 883 war von 1969 bis 1972 das auflagenstärkste Organ des parteiunabhängigen Linksradikalismus in der Bundesrepublik. Angefangen hat es mit dem Abpinseln von Kleinanzeigen, die recht unüberschaubar in den zahllosen alternativen und linken Kneipen Berlins herumhingen. Mit der Zeit wurde die Agit 883 – die Zahl setzt sich zusammen aus den letzten Ziffern der Telefonnummer des Redaktionssitzes – zum wichtigsten Szenekommunikationsmittel. Mit allen Vorzügen und Nachteilen.
Der bürgerlichen Öffentlichkeit dürfte seit der Veröffentlichung des Buches über »Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus« von Wolfgang Kraushaar die Zeitschrift als terroristisch-subkulturelle Brutstätte des antisemitischen Antizionismus bekannt sein. Denn in der Agit 883 veröffentlichte Dieter Kunzelmann seine »antizionistischen Briefe aus Amman«. Ebenso fand hier eine eher beschämende Diskussion über den Brandanschlag auf die Jüdische Gemeinde am 9. November 1969 durch die »Schwarzen Ratten/Tupamaros Westberlin« statt. Der von Kraushaar als Drahtzieher des Anschlags decouvrierte Kunzelmann steht pars pro toto für einen ins Antizionistisch-Antisemitische radikalisierten Neo-Antifaschismus, der sich laut Neuer Linker als Antiimperialismus praktisch-theoretisch zu beweisen hätte.
Knud Andresen geht in seinem Beitrag auch dem Antizionismus und Antisemitismus in der Agit 883 nach und kommt zu dem wenig erstaunlichen Schluss, dass es diesen in der Zeitschrift nicht zu knapp gab. Wie das Verhältnis zu den eher weniger subkulturell-anarchistischen SDS-Theoretikern in dieser Frage ist, klärt der Beitrag leider nicht.
Kraushaar geht in seinem Buch von einer antisemitischen Unterströmung der APO-Zeit aus und grenzt davon recht scharf die SDS-Prominenz ab. Ob dies richtig ist, kann auch das hier vorliegende Buch nicht klären.
Für die Linken ist der Reader eine Einladung, sich der historischen Zeitschrift in ihrer ganzen Themenvielfalt zu widmen. Denn die Agit 883 war wichtig. Die RAF schickte nicht umsonst an diese Zeitschrift ihre noch im Gestus der Marcuse’schen Randgruppenstrategie gehaltene Erklärung zur Befreiung von Andreas Baader. Agit 883 wollte die Militanzdebatte führen und anfeuern und wehrte sich gegen die Akademisierung von 1968 und gegen die K-Gruppen-Bürokratisierung ab 1969. Neben der Omnipräsenz von Mao, der weniger als Theoretiker denn als Ikone der Revolte goutiert wurde, finden sich hier sämtliche linksradikalen Theorieversatzstücke wieder. Dario Azzellini macht in einem interessanten Beitrag zum Internationalismusdiskurs auf die späte Rezeption des italienischen Operaismus innerhalb der Agit aufmerksam und stellt heraus, dass lange Zeit dem Bewegungsmaoismus das Wort geredet wurde. Erst in der späten und keineswegs dogmenfreien, anarchistisch-rätekommunistischen Phase des Magazins wagte man sich an eine radikale Kritik des chinesischen bürokratischen Staatskapitalismus.
Die Sprache der Agit 883 ist Szenejargon, bereits in der Sprache spiegelt sich eine Kampfansage an das Establishment wider. Wenn damals »gevögelt« und »gefickt« werden wollte – explicit lyrics –, so mochte das noch der Versuch sein, gegen den immer noch herrschenden Mief anzuschreiben. Heutzutage muss man eher schmunzeln, wenn man Derartiges liest. Die Autoren des Buchs haben sich darauf geeinigt, mehrheitlich sozialwissenschaftlich über die Agit 883 zu schreiben. Aber haben die Agit 883-Texte es verdient, rein wissenschaftlich behandelt zu werden? Die zweite Frage ist, wie sehr man die heutigen Kriterien linker Debatten (und niemand möge behaupten, sie seien letztlich ideologiefrei) an die damaligen Überzeugungen anlegen sollte.
Insgesamt verlegen sich die Autoren des Buchs auf die bloße Darstellung und Nacherzählung. Beispielsweise Massimo Perinelli in seinem Text über die Sexualitätsdiskurse in der Agit 883. Hierfür hat er vor allem die Klein- und Kontaktanzeigen in der Zeitschrift durchforstet, in denen die Suche nach Sexpartner(inne)n in der Regel politisch begründet ist. »Weg mit dem Wixteufel! Am Sonntag um 11.00 Uhr haben die Roten Bauarbeiter am Oranienpl. 15 Frühschoppen gehalten u. kamen überein: 2 Gen. brauchen dringend den sexuellen Ausgleich. Helft ihnen, Genossinnen.« Sexualität wurde hier noch mit Wilhelm Reich in einen Befreiungsdiskurs eingespannt, dem spätestens mit Foucault (»Nein zum König Sex«!) und dem repressiven, autonomen Antisexismus der achtziger Jahre eine Absage erteilt wurde.
Weniger gut gelungen sind dagegen die Beiträge, die einem heutigen Kanon verpflichtet sein wollen. Das USA-Bild in der Agit 883, das zu untersuchen sich Michael Hahn vorgenommen hat, wird letztlich auf den schnell konstatierten Antiamerikanismus gebracht. Natürlich gab es »Pigs und Schweine und Faschisten« in den USA, Agit 883 zufolge – und als manichäischen Gegenpart die bewaffneten Black Panther. Aber ist diese Vorstellung eines abzulehnenden Mainstream-Amerika und eines subversiven Gegen-Amerika bereits antiamerikanisch, wie Michael Hahn behauptet? Irritation würde aufkommen, blickte man in politisch-ideologisch ähnlich gelagerte Schriften radikaler US-Amerikaner, wie beispielsweise in das Pamphlet »Do it« von Jerry Rubin, der US-amerikanischen Entsprechung der Agit 883. Man würde die identische Sprache, Symbolik und Kritik entdecken.
Mehrheitlich schreiben in dem Buch mehr oder weniger an den Wissenschaftsbetrieb angedockte Protagonisten der Bewegungen der BRD der achtziger Jahre. Es ist interessant zu sehen, wie sich diese Generation hier den Spät-Sechzigern stellt.
Rotaprint 25 (Hg.): Agit 883. Bewegung Revolte Underground in Westberlin 1969-1972, plus CD-Rom. Assoziation A, Hamburg/Berlin 2006, 296 S., 22 Euro