Die Großstadt wird klein

Die Ausstellung »Shrinking Cities« zeigt die Verödung der urbanen Zentren. von philipp steglich

Die letzten Jahrzehnte wurde man unablässig bombardiert mit Informationen über das stetige Wachstum der Metropolen. Diskutiert wurde die Entstehung von Zig-Millionen-Städten etwa in Brasilien und China und das unwirtliche Lebensumfeld ihrer Bewohner. Eine zugezogene verarmte Landbevölkerung vegetiert ohne sanitäre Einrichtungen in der Stadt vorgelagerten Slums, in dürftigen Wellblechhütten dahin, ohne Aussicht auf Ausbildung und dauerhafte Anstellung, während die Stadt selbst, ohne jede raumplanerische Gestaltung gewachsen, im Gestank des Verkehrs untergeht.

Wie die Berliner Ausstellung »Shrinking cities« klarmacht, gibt es jedoch auch das Problem »schrumpfender Städte«. Und als erstes denkt der sozialkritisch geschulte Beobachter natürlich: Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln. Es entsteht der Eindruck, die wissen auch nicht mehr, was sie wollen, die Ausstellungsmacher, die passionierten Problemsucher. Doch ist alles ganz anders; schrumpfende Städte sind ein Problem, auch in Deutschland.

Dabei, so erklären die Veranstalter, liegen dem »Phänomen urbaner Schrumpfung mehrere Transformationsprozesse zugrunde. Vorgestellt werden hier vier exemplarische Stadtregionen, die jeweils eine spezifische Form der Schrumpfung repräsentieren: Die Automobilstadt Detroit (USA) steht für Schrumpfung durch Suburbanisierungsprozesse; die Textilregion Ivanovo (Russische Föderation) für Schrumpfung im postsozialistischen Wandel und die ehemalige Industrieregion Manchester/Liverpool (Großbritannien) für Schrumpfung durch Deindustrialisierung. Alle drei Prozesse schlagen sich gleichzeitig im vierten Beispiel nieder – der Region Halle/Leipzig.« Diese knappe Einführung kann man auf einer der Wandtafeln lesen, die in dem Hauptraum der Ausstellung die historische Entwicklung der vier Beispielstädte anschaulich nachzeichnen. In den einzelnen Etagen des Gebäudes werden – ein Stadtgebiet auf einem Stockwerk – der jeweilige Zustand der Verelendung und dessen teilweise Aufhebung durch – auch künstlerische – Gegenmaßnahmen dargestellt.

Die Stadt Detroit ist vermutlich der härteste Fall: Von Schrumpfung kann hier kaum noch die Rede sein, halbierte sich doch die Einwohnerzahl von knapp 1,9 Millionen im Jahre 1950 auf nunmehr zirka 921 000. Eine vollkommen gegensätzliche Entwicklung vollzog sich im gleichen Zeitraum in den Vororten Detroits; hier stieg die Zahl der Einwohner von 1,2 Millionen um 171 Prozent auf 3,1 Millionen.

Detroit war Zentrum der US-amerikanischen Autoindustrie und Sitz der drei ganz Großen der Branche: Ford, Chrysler und General Motors. Hier wurde das Konsumprodukt des 20. Jahrhunderts, das Automobil, millionenfach hergestellt. Den amerikanischen Arbeitern gelang es hier zuerst, dank guter gewerkschaftlicher Organisierung, Tarifverträge und andere Verbesserungen in Arbeitskämpfen durchzusetzen. Sie spielten eine Vorreiterrolle für das Proletariat der großen Industrie- und Stahlstädte des so genannten Rust-Belt wie Pittsburgh und Cleveland. Als 1941 die USA offiziell in den Krieg eintraten, stellte Detroit komplett auf Kriegsproduktion um. Hier wurden die Waffen gebaut, mit denen Nazideutschland besiegt wurde, und Detroit galt als das »Arsenal of Democracy«. Es mussten die höchsten Löhne gezahlt werden. Vor allem afroamerikanische Arbeiter kamen in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen in den vorgeblich liberaleren Norden Amerikas nach »Motor City«.

Aber schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in der Zeit von 1947 bis 1958, wurden zwar 25 neue Fabriken im Umland Detroits gebaut, aber keine einzige mehr im Stadtgebiet, was hohe Verluste an Steuereinnahmen zur Folge hatte. Da nun auch die weißen, besser verdienenden Einwohner in die Vororte zogen, sanken die Einnahmen der Stadt abermals, was den Niedergang der öffentlichen Einrichtungen wie Schulen etc. beschleunigte. Damit wurde aber auch die Macht der organisierten Arbeiterschaft gebrochen. Das Proletariat spaltete sich fortan in einigermaßen gut verdienende weiße Vorstädter und unregelmäßig oder gar nicht beschäftigte afroamerikanische Städter, die weder für sich noch gemeinsam in der Lage waren, gesellschaftlich erfolgreich zu sein.

Und auch das urbane Leben verödete, als erste Einkaufscenter errichtet wurden, die die nötige Kaufkraft aus der Innenstadt abzogen. In der Ausstellung sind einige Ansichten imposanter Geschäftshäuser und Gebäude abgebildet: Banken, Bibliotheken und Kinos, die heute als Parkhäuser, Reinigungen und Videotheken eine weit weniger glanzvolle Nutzung erfahren. Die Weißen jedenfalls haben – durchaus rassistisch motiviert – der verelendenden afroamerikanischen Bevölkerungsmehrheit die Stadt Detroit überlassen. Die verlassenen Häuser verfallen, dienen als Unterschlupf krimineller Banden und werden abgerissen oder abgefackelt. Das Abbrennen leerstehender Häuser wird auch in dem Film »8 Mile« gezeigt, der aus der Lebensgeschichte des Rappers Eminem erzählt. Überhaupt eignet Detroit sich als Hintergrundlandschaft für Phantasien über den Untergang der urbanen Zivilisation und dient demnach in Filmen wie Paul Verhoevens Meisterwerk »Robocop« als ausdrucksstarke Kulisse, die auf zügellose Gewalt, das ohnmächtige Versagen der Autoritäten und das Fehlen einer gegensteuernden Zivilgesellschaft hinweist.

Im russischen Ivanovo begann die Deindustrialisierung nicht schon 1950, sondern erst mit dem Ende der Sowjetunion. Die Textilfabriken hatten bis dahin das Leben ihrer Angestellten – und das der Bürger der Stadt – dominiert und mit sozialen Einrichtungen wie Kantine und Kindergarten organisiert. Als die Fabriken auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig waren, wurde ein Großteil der Angestellten entlassen. Nun gelingt es den ehemals Beschäftigten nur noch mit Hilfe des Ackerbaus in Kleingärten, sich zu ernähren. Das urbane Leben musste zugunsten einer Landwirtschaft im Kleinen aufgegeben werden.

Da aber auch – ein typisches Merkmal der so genannten Dritten Welt – Industriegüter nicht mehr gekauft werden können, werden diese von den ehemaligen Ingenieuren und Facharbeitern selbst hergestellt. In der Ausstellung zeugen handgemachte Mehrfachsteckdosen, aus Ölkanistern geschnittene Behälter und selbstgebogene Kleiderbügel vom Niedergang.

In den Ausstellungsräumen zur Region Manchester/Liverpool befinden sich ganz andere Insignien der Deindustrialisierung. Monitore sind zu Inseln gruppiert worden; gezeigt werden Arbeitsplätze in typischen Call Centern. Hier verdingt sich das postindustrielle Proletariat der Dienstleister. Hier kann man über Lautsprecher ihrem Dialog mit Kunden lauschen. Wobei es, wie ja in diesen Arbeitsstätten üblich, nicht möglich ist, in der lauten Geräuschkulisse einem Gespräch sinnvoll zu folgen. Dafür sind jedoch im begleitenden und vorzüglich gemachten Katalog zur Ausstellung einige »Call-Center-Songs« nachgedruckt.

Das oberste und letzte Stockwerk ist der Region Leipzig/Halle gewidmet, die nach massiver Stadtflucht und Geburtenrückgang einen Leerstand an Wohnungen von zirka 20 bis 30 Prozent hat, bei ähnlich hoher Arbeitslosigkeit. Hier werden leer stehende Wohngebäude, vor allem Plattenbauten, abgerissen und in Naturflächen rückverwandelt. Eine großformatige Aufnahme zeigt eine glückliche Ostdeutsche im innerstädtischen Kleingarten. Das Glück der Natur im vormaligen Großstadtdschungel.

Im Herbst 2005 wird in Leipzig der zweite Teil der Ausstellung gezeigt, dort sollen Handlungskonzepte gegen die Suburbanisierungs- und Schrumpfungsprozesse vorgestellt werden. Der erste Teil deprimiert den Besucher, der jedoch selten eine so informative, gehaltvolle und die Probleme dezent vermittelnde Ausstellung gesehen haben wird. Die nüchtern kalkulierte Darstellung des Ist-Zustandes macht Schaudern. Auch wenn die von der Bundeskulturstiftung geförderte Schau von dem ökonomischen System, welches für den Großteil der Probleme verantwortlich ist, nicht reden will.

»Shrinking Cities«. Berlin, Kunstwerke, bis 7. November. Zur Ausstellung ist bei Hatje & Cantz ein Katalog erschienen.