»Uns ging es darum, dass die Menschen überleben«
Am 28. Januar begann in der Stadt Hajnówka in Ostpolen der Prozess gegen fünf Flüchtlingshelfer:innen. Was ist der Hintergrund?
Die Situation, um die herum die Anklage aufgebaut ist, ereignete sich schon im Frühjahr 2022. Das war die schlimmste Phase in der schon dreieinhalbjährigen Geschichte der humanitären Krise an der polnisch-belarussischen Grenze. Zu dieser Zeit hatten wir eigentlich keine Chance, den Flüchtlingen rechtliche Hilfe zu leisten. Der polnische Grenzschutz akzeptierte einfach keine Anträge auf Asyl. Flüchtlinge liefen Gefahr, sofort an der Grenze wieder zurückgedrängt zu werden. Deshalb gingen wir dazu über, vor allem humanitäre Hilfe zu leisten. Uns ging es darum, dass die Menschen einfach überleben, dass sie etwas zu essen bekommen, Kleidung erhalten, sich aufwärmen können. Und in dieser Situation, im März 2022, wurden die fünf jetzt angeklagten Aktivist:innen vom Grenzschutz aufgegriffen, als sie sich gerade um zehn Flüchtlinge – eine Familie irakischer Kurden mit sieben Kindern und einem Flüchtling aus Ägypten – kümmerten.
Was genau wird den Flüchtlingshelfer:innen vorgeworfen?
Zunächst hatte die Staatsanwaltschaft sie der Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt beschuldigt, ein Vergehen, das schwere Strafen nach sich zieht. Aber weil es überhaupt keine Beweise dafür gab, wurde dieser Vorwurf fallengelassen. Deshalb waren wir auch eigentlich davon ausgegangen, dass die Sache ausgestanden ist. Im Frühjahr vergangenen Jahres wurde jedoch die Anklage geändert, in Beihilfe zu illegalem Aufenthalt in Polen aus Gründen des persönlichen Vorteils.
Wo soll denn nach Auffassung der Staatsanwaltschaft ein persönlicher Vorteil zustande gekommen sein?
Die Staatsanwaltschaft hat hier wirklich größte Flexibilität bewiesen, den Artikel so auszulegen, dass der persönliche Profit in dieser Situation auf Seiten der Flüchtlinge stünde und der Tatbestand somit erfüllt sei. Das ist eine komplett absurde Situation und für mich ein Beweis, dass dies ein politischer Prozess ist, dass er zum Ziel hat, das gesamte Aktivist:innenmilieu einzuschüchtern.
»Wir wissen nicht, ob es der Staatsanwaltschaft nur um die Einschüchterung des aktivistischen Milieus zu tun ist, oder darum, einen Präzedenzfall zu schaffen.«
Dabei ist Ministerpräsident Donald Tusk doch im Wahlkampf mit dem Versprechen angetreten, die humanitäre Situation der Flüchtlinge an der Grenze zu verbessern?
Ich hatte eigentlich schon vor der Wahl keine großen Illusionen, dass sich die Situation an der Grenze verbessern würde. Ich hatte höchstens gedacht, dass die neue Regierung sich zumindest bemühen würde, Pushbacks und andere Rechtsbrüche etwas besser zu vertuschen. Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass die Situation für Flüchtlinge an der Grenze noch schlimmer werden könnte, dass erneut eine Sperrzone eingerichtet wird, dass Soldaten an der Grenze der Waffengebrauch erleichtert wird, oder dass der Sejm ein Gesetzentwurf verabschiedet, der die zeitweise Aussetzung des Asylrechts ermöglicht, wie am vergangenen Freitag geschehen.
Aber hat die Regierung, der auch ein linkes Parteienbündnis angehört, nicht auch den Kontakt zu euch gesucht?
Das stimmt. Zu Beginn haben sie durchaus interessiert an einem Dialog gewirkt. Wir wurden aus Regierungskreisen zu Treffen eingeladen, bei denen immer wieder beteuert wurde, wie wichtig unsere humanitäre Arbeit sei. Wir erhielten sogar Versicherungen aus dem Justizministerium, dass die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe unterbunden werde, dass sie alle gegen uns vorliegenden Anklagen überprüfen würden. Aber als wir auf die Frage, wie man unsere Arbeit noch unterstützen könne, antworteten, dass es uns am meisten helfen würde, wenn sie unsere Arbeit überflüssig machen würden, stießen wir auf Unverständnis. Die Regierung würde uns Aktivist:innen am besten unterstützen, indem sie sich an geltendes Recht hielte.
Das bedeutet, dass die gegenwärtige Regierung einräumt, Pushbacks und andere Rechtsbrüche an der polnisch-belarussischen Grenze zu begehen?
Ich erinnere mich an ein Treffen im Ministerium für Inneres und Verwaltung, während dem mir wirklich übel geworden ist. Die Vertreter:innen betonten im Gespräch mit uns mehrfach, dass sie selbst wüssten, dass Pushbacks eigentlich illegal, unproduktiv und auch ethisch nicht vertretbar seien, aber dass es eben keinen anderen Ausweg gäbe. Dabei nannten sie die Praxis natürlich nicht Pushback, sondern »Rückführung zur Grenzlinie«.
»Ich erinnere mich an ein Treffen im Ministerium für Inneres und Verwaltung, während dem mir wirklich übel geworden ist. Die Vertreter:innen betonten im Gespräch mit uns mehrfach, dass sie selbst wüssten, dass Pushbacks eigentlich illegal, unproduktiv und auch ethisch nicht vertretbar seien, aber dass es eben keinen anderen Ausweg gäbe.«
Lässt sich ein konkretes Ereignis ausmachen, das den Richtungswechsel der Regierung bei der Migrationspolitik eingeleitet hat?
Zumindest gibt es einen Moment, an dem sich die Rhetorik änderte. Und zwar, als im Mai vergangenen Jahres ein polnischer Soldat von einer Person an der Grenze niedergestochen wurde. Der Soldat verstarb später. Anstatt diesen Einzelfall aufzuarbeiten, nutzte die Regierung die Situation, um zur Rhetorik der PiS-Regierung zurückzukehren; einer dehumanisierenden Rhetorik, in der Migrant:innen keine Menschen sind, sondern »Kriminelle« und »Waffen« Aleksandr Lukaschenkos (des belarussischen Diktators; Anm. d. Red.).
Gleichzeitig instrumentalisieren die belarussische und auch die russische Regierung die Flüchtlinge in ihrer hybriden Kriegsführung gegen die EU.
Dass die Flüchtlingsroute über die belarussische Grenze in die EU seit etwa Frühjahr 2021 von Russland und Belarus künstlich geschaffen wurde, ist unumstritten. Nachdem die EU Belarus aufgrund der gefälschten Präsidentschaftswahlen im Sommer 2020 mit Sanktionen belegt hatte, wollte Lukaschenko im Gegenzug Europa mit Flüchtlingen »überschwemmen«. Gleichzeitig dient ihm das Schleppergeschäft als attraktives Geschäftsmodell, denn der Verkauf von Visa und die Reiseinfrastruktur rund um die Flüchtlingsroute ist auch wirtschaftlich profitabel. Nachdem die Route über die belarussische Grenze aber zunächst mit einiger Anstrengung von russischer und belarussischer Seite geschaffen worden war, funktioniert sie jetzt auch ohne zusätzliche Anstöße. Denn im Vergleich zu den hohen Sterberaten auf dem Mittelmeer oder der Balkanroute ist der Weg über die »grüne Grenze« im belarussisch-polnischen Wald vergleichsweise sicher und wird deshalb von vielen gewählt.
Die polnischen Regierungsparteien haben die Wahlen im Oktober 2023 auch mit der Unterstützung vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen gewonnen. Wie reagieren diese auf den Kurswechsel Tusks?
Als PiS Regierungspartei war, verurteilten viele oppositionellen Gruppen die rassistische Rhetorik und die illegalen Praktiken an der Grenze. Ob es ihnen tatsächlich um die Situation an der Grenze ging, sei dahingestellt. Aber damit konnten sie sich gegen PiS positionieren. Sobald jedoch die Regierung Tusk genau die gleichen Mittel wie die Vorgängerregierung anwendet, hört ein großer Teil der Zivilgesellschaft einfach auf, selbständig zu denken. Die Furcht vor der Rückkehr von PiS an die Macht ist so groß, dass gar nicht wahrgenommen wird, wie ähnlich das Verhalten der derzeitigen Koalitionsregierung dem von PiS ist.
»Das einzig Positive an dieser Situation ist, dass unfassbar viele Menschen ihre Solidarität mit den Aktivist:innen demonstriert haben.«
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 war Polen plötzlich mit einer enormen Anzahl an Asylsuchenden konfrontiert. Wie sieht die Situation ukrainischer Flüchtlinge in Polen gegenwärtig aus?
Nach inzwischen drei Jahren herrscht allgemein die Überzeugung, dass die Polen ihre Aufgabe geleistet hätten. Die anfängliche Aufgeschlossenheit für die vermeintlich im Vergleich mit anderen Flüchtlinge kulturell näherstehenden Ukrainer:innen hat sich schnell aufgebraucht. Jetzt werden auch diese allmählich als bedrohliche Fremde wahrgenommen, die unsere Arbeitsplätze und Sozialleistungen wegnehmen würden. Ich würde von einer verantwortungsvollen Politik erwarten, dass sie diese Ängste mit einer vernünftigen Integrationspolitik beantwortet, aber es ist natürlich viel einfacher, sie zu nutzen, um andere politische Probleme zu vertuschen.
Um auf den Prozess gegen die fünf Angeklagten zurückzukommen: Wie geht es für sie und ihre Unterstützer:innen jetzt weiter?
Das einzig Positive an dieser Situation ist, dass unfassbar viele Menschen ihre Solidarität mit den Aktivist:innen demonstriert haben. Am ersten Prozesstag waren so viele Unterstützer:innen sowie polnische und internationale Medien anwesend, dass die Verhandlung erst mit einigen Stunden Verspätung beginnen konnte. Der nächste Verhandlungstag wird wohl erst im April oder Mai stattfinden, vermutlich in Białystok, der Hauptstadt der Woiwodschaft Podlachien (die an Belarus grenzt; Anm. d. Red.). Das bedeutet aber auch weitere Monate Stress und psychische Belastung für die Angeklagten. Wir haben keinerlei Zweifel daran, dass die Vorwürfe absurd sind, dass diese ganze Situation absurd ist. Aber in dieser politisierten Situation wissen wir nicht, ob es der Staatsanwaltschaft nur um die Einschüchterung des aktivistischen Milieus zu tun ist, oder darum, einen Präzedenzfall zu schaffen.
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