Kranker Lohnverzicht
Am 24. Oktober 1956 begann einer der längsten Arbeitskämpfe in der deutschen Geschichte. Rund 34.000 Metallarbeiter:innen legten in Schleswig-
Holstein 16 Wochen lang die Arbeit nieder – und gingen siegreich aus der größten sozialen Machtprobe der noch jungen Bundesrepublik hervor. Anlass für den historischen Ausstand war die Frage der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: Letztere ist es, die sich die Metaller:innen zwischen 1956 und 1957 erstreikt haben. Dem Erfolg im Norden folgte zunächst die Übernahme der Lohnfortzahlung in den anderen Tarifgebieten der IG Metall und kurz darauf die gesetzliche Festschreibung der Lohnfortzahlung für alle Lohnabhängigen.
Die Absicherung bei Krankheit gilt noch immer als einer der wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften der Bundesrepublik. Unumstritten war sie jedoch nie. Immer wieder haben Unternehmensvertreter:innen die Regelung attackiert. Oliver Bäte, Vorstandsvorsitzender des Allianz-Konzerns, setzte diese Tradition vergangene Woche fort. Nachdem er bereits im vergangenen Jahr in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt einen »chronisch erhöhten Krankenstand« beklagt und dafür plädiert hatte, endlich wieder ein Verständnis dafür herzustellen, »dass unser Wohlstand auch etwas mit dem Willen zu tun hat, sich für den Erhalt dieses Wohlstands anzustrengen«, forderte er nun die Einführung eines Karenztags, also eines Tages ohne Lohnfortzahlung bei Krankmeldungen.
»Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen«, so Bäte im Interview mit dem Handelsblatt. Als wichtigstes Argument für die Abwälzung der Kosten auf die Lohnabhängigen führt er die gestiegene Zahl an Krankentagen ins Feld. »Deutschland ist mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen. Das erhöht die Kosten im System«, behauptete der Leiter des größten deutschen Versicherungskonzerns.
Schon vor der Covid-19-Pandemie gaben 70 Prozent der Beschäftigten bei repräsentativen Umfragen an, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit zu erscheinen.
Wenn man Bäte glauben wollte, gehörte der protestantische Arbeitsethos von Fleiß und Maloche bis zur totalen Erschöpfung der Vergangenheit an. Leider ist das nicht so, denn mit der Realität hat die Denunziation der Lohnabhängigen als Drückeberger:innen und Blaumacher:innen wenig zu tun. Zwar ist die Zahl der von den Krankenkassen registrierten Krankmeldungen in den vergangenen zwei Jahren gestiegen – laut Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fehlten Beschäftigte in Deutschland im vergangenen Jahr allerdings gerade einmal 6,8 Prozent ihrer Arbeitszeit aufgrund einer Erkrankung. Das entspricht exakt dem Durchschnitt des Zeitraums von 2015 bis 2019. Nur in den Pandemiejahren 2021 und 2022 war der Wert aufgrund der vermehrten Kurzarbeit und Homeoffice-Nutzung vorübergehend niedriger.
Die Daten der OECD widersprechen auch der Darstellung, Deutschland liege im europäischen Vergleich beim Krankenstand an der Spitze. So verzeichnet die OECD in Frankreich einen höheren Wert, in Belgien und Schweden liegt er auf dem gleichen Niveau.
Auch Zahlen des Statistischen Amts der Europäischen Union passen nicht zum suggerierten Bild Deutschlands als Weltmeister im Krankfeiern. Unter den 27 Mitgliedstaaten war der Prozentsatz von Beschäftigten, die im zweiten Quartal 2024 mindestens einmal gefehlt haben, in Norwegen, Finnland und Schweden am höchsten. Deutschland liegt hingegen mit Platz 10 im Mittelfeld.
Rein statistischer Effekt
Warum jedoch ist die Zahl der Krankmeldungen zuletzt deutlich angestiegen? Laut OECD-Arbeitsmarktexperte Christopher Prinz kommt hier »zum größten Teil ein rein statistischer Effekt« zum Tragen. Bis 2021 mussten Versicherte die Krankmeldung selbst an ihre Krankenkasse schicken. Oft taten sie das bei kurzzeitigen Erkrankungen von wenigen Tagen jedoch nicht. Seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum 1. Januar 2022 ist die elektronische Übermittlung durch die Ärzte an die Krankenkassen jedoch verpflichtend und erfolgt dadurch lückenlos. Seitdem steigen die Krankenstände in der Statistik. »Es gibt keinen sachlichen Grund, die Debatte gerade jetzt zu führen«, konstatiert Prinz deshalb.
Tatsächlich scheint das Problem vielmehr zu sein, dass sich immer noch zahlreiche Menschen krank in die Arbeit schleppen. Schon vor der Covid-19-Pandemie gaben 70 Prozent der Beschäftigten bei repräsentativen Umfragen an, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit zu erscheinen. Im Durchschnitt arbeiten Beschäftigte fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung.
Vehementer Widerstand angekündigt
»Niemand braucht aktuell Vorschläge, die noch mehr Beschäftigte dazu bringen, krank zu arbeiten«, mahnt deshalb Anja Piel, Mitglied des DGB-Bundesvorstands. Krank zu arbeiten, erhöhe die Gefahr von Unfällen und Fehlern. »Präsentismus schadet aber nicht nur der eigenen Gesundheit sondern führt auch zur Ansteckung von Kolleg:innen«, sagt Piel und kündigt vehementen Widerstand gegen Angriffe auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall an. Es sei inakzeptabel, die wachsenden Gesundheitskosten auf die Lohnabhängigen abzuwälzen, »um im Umkehrschluss Arbeitgeber zu entlasten, Boni für Vorstände zu sichern und Dividenden der Shareholder zu steigern«.
Auch die DGB-Bundesvorsitzende Yasmin Fahimi gibt sich kämpferisch. »Wir werden unsere Errungenschaften vor der sozialen Abrissbirne schützen.«
Dass die Gewerkschaften durchaus in der Lage sind, die einst erstrittene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu verteidigen, zeigt ein Blick in die jüngere Geschichte. 1996 endete der Versuch der Regierung Kohl, die Entgeltfortzahlung auf 80 Prozent zu reduzieren, in einer krachenden Niederlage für die schwarz-gelbe Koalition. Schon die Ankündigung sorgte für Proteste bis hin zu spontanen wilden Streiks, insbesondere in der Automobilindustrie. Hunderttausende Lohnabhängige beteiligten sich an Protesten, die ihren Höhepunkt in einer Großdemonstration von 350.000 Menschen in Bonn fanden. Am Ende konnten sich die Gewerkschaften durchsetzen. Die volle Lohnfortzahlung ab dem ersten Tag gilt noch immer.