19.12.2024
Der Prozess um den Tod von ­Mouhammed Dramé endete mit Freisprüchen

Straflos töten

Mouhamed Dramé wurde vor zweieinhalb Jahren in Dortmund von der Polizei erschossen. Vergangene Woche endete der Prozess: Alle angeklagten Polizisten wurden freigesprochen. Dramé hatte sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden, so wie viele Menschen, die von der Polizei getötet werden.

Aufgebracht, fassungslos und sauer wirkten viele Zuschauer im großen Schwurgerichtssaal, als die Verhandlung am Donnerstag vergangener ­Woche endete. »Justice for Mouhamed!« riefen manche. Später skandierten sie in den Gängen des Dortmunder Landgerichts: »Das war Mord.« Da waren die fünf freigesprochenen Polizisten schon weg.

Vor zweieinhalb Jahren war der junge senegalesische Flüchtling Mouhamed Lamine Dramé von einem dieser Polizisten erschossen worden, mit fünf Kugeln aus dessen Maschinenpistole. Zwei seiner Brüder waren als Nebenkläger in Dortmund dabei. Sie weinten nach der Urteilsverkündung. Vor und nach dem Prozess hielt der Solidaritätskreis »­Justice 4 Mouhamed« wie so oft an Prozesstagen eine Mahnwache vor dem Landgericht ab.

Dieses Jahr wurden in Deutschland so viele Menschen durch Schüsse der Polizei getötet wie seit 1999 nicht mehr.

Dramé starb im Hinterhof einer katholischen Jugendhilfeeinrichtung, in der er wohnte. Die Polizei war gerufen geworden, weil befürchtet wurde, dass er sich umbringen wolle. Dramé hockte mit einem langen Messer in der Hand im Hof, als die Polizisten kamen. Zivilbeamte sprachen ihn auf Deutsch und Spanisch an, aber Dramé – der keine der beiden Sprachen beherrschte – reagierte nicht.

Nur eine Minute später kam der Einsatzbefehl. Die Polizisten richteten Taser und eine Maschinenpistole auf Dramé, dann besprühten sie ihn mit Pfefferspray. Dramé erhob sich und soll auf die Polizisten zugegangen sein. Womöglich wollte er einfach aus dem Hof heraus – der Weg war von den Polizisten versperrt.

Mit Tasern und Maschinenpistole

Zwei von ihnen schossen mit Tasern auf ihn, direkt danach schoss ein Beamter mit der Maschinenpistole und traf ihn mit fünf von sechs Kugeln. Eine Beamtin, die mit dem Taser auf Dramé geschossen hatte, sagte später im Prozess aus, dass die tödlichen Schüsse fast gleichzeitig fielen, weshalb sie nicht einmal habe feststellen können, ob der Taser eine Wirkung hatte.

Angeklagt waren der Einsatzleiter, der Schütze und drei weitere Beamte. Nach 31 Verhandlungstagen wurden nun alle fünf freigesprochen. Dem Gericht zufolge habe selbst der Todesschütze geglaubt, in Notwehr gehandelt zu haben. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Die Staatsanwaltschaft selbst hatte für vier Polizisten einen Freispruch gefordert – sogar für den Beamten, der Dramé mit mehreren Schüssen tötete. Nur der Dienstgruppenleiter sollte der Staatsanwaltschaft zufolge eine Freiheitsstrafe auf Bewährung erhalten, wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung und fahrlässigen Tötung. Er hatte angeordnet, Pfefferspray einzusetzen. »Vorrücken und einpfeffern. Das volle Programm. Die ganze Flasche!« lautete seine Anweisung. Die Staatsanwaltschaft warf dem Dienstgruppenleiter vor, einen Einsatzplan »ohne eigenes Bild der Lage« entworfen und »dann stumpf die erste Planung in die Tat umgesetzt« zu haben.

»Polizei hat falsch gehandelt«

Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg, kritisierte das Urteil im Gespräch mit der Jungle World: Der Einsatzleiter sei seines Erachtens dafür verantwortlich, dass sich die anderen Polizisten in einer Notwehrlage wähnten. »Diese Situation ist aber durch ihn erst hergestellt worden, indem er den Pfeffersprayeinsatz direkt angeordnet hat.«

Es stehe »nach wie vor fest, dass die Polizei falsch gehandelt hat«, meint Behr. Er hätte es gerechter gefunden, wenn der Einsatzleiter »wenigstens, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, zu einer symbolischen Strafe verurteilt worden wäre, weil damit zu Ausdruck gebracht worden wäre, dass die Maßnahmen unverhältnismäßig waren.«

»Mouhamed hat die Polizisten zu keinem Zeitpunkt bedroht. Das Urteil ist komplett unverständlich«, sagte der Prozessbeobachter William Dountio der Jungle World. Der Solidaritätskreis und der Verein Grundrechtekomitee seien »fassungslos, wütend und traurig«, heißt es in einer Mitteilung. Es gehe ihnen nicht um die »Angemessenheit von Strafe, sondern um das völlige Fehlen einer Verantwortungsübernahme«.

Auf Psychologen oder Dolmetscher warten

Dramé hatte das Messer damals an seinen nackten Bauch gehalten. Er wollte sich womöglich selbst verletzen, aber er zeigte keine Intention, die Beamten oder jemand anderen anzugreifen. Statt mit Pfefferspray anzugreifen, hätte die Polizei sich damals zurückziehen können, um auf professionelle Hilfe wie etwa Psychologen oder Dolmetscher zu warten.

Das sieht der Einsatzleiter anders. »Soll ich warten, bis sich Herr Dramé ein Messer in den Bauch rammt? Und elf Polizisten stehen drum rum und tun nichts«, sagte er vor Gericht. Er habe dafür gesorgt, dass »Herr Dramé nicht unkontrolliert fliehen konnte«.

Der Richter vertrat in seiner Urteilsbegründung die Ansicht, dass »der Schaden« wohl vermutlich genauso eingetreten wäre, wenn an jenem Tag ­andere Beamte im Einsatz gewesen wären. Die Anordnungen des Einsatzleiters seien »nicht rechtswidrig« gewesen. Dass die Polizisten das Recht hatten, mit scharfer Munition zu schießen, stellte der Richter nicht in Frage.

Genaue Zahlen gibt es nicht

Dramé war 2021 über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Sein Stiefbruder sei dabei ertrunken, erzählte Dramé später. In Deutschland gab er bei den Behörden an, 16 Jahre alt zu sein, und wurde deshalb in der Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund untergebracht. In Wirklichkeit war er wohl schon über 20.

In der Einrichtung lebte Dramé kaum eine Woche. Am Tag vor seinem Tod setzte er sich von dort ab, wurde dann von der Polizei aufgegriffen und in eine psychiatrische Klinik gebracht, weil er Suizidgedanken ­äußerte. Dort wurden eine depressive Phase und eine posttraumatische ­Belastungsstörung diagnostiziert, doch Dramé wurde wieder nach Hause ­geschickt.

Der Datenbank der Zeitschrift Cilip – Bürgerrechte & Polizei zufolge wurden dieses Jahr in Deutschland so viele Menschen durch Schüsse der Polizei getötet wie seit 1999 nicht mehr. Viele von ihnen waren psychisch krank. Thomas Feltes, Professor für Kriminologie und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, schätzt, dass sich etwa zwei Drittel der Opfer zum Zeitpunkt ihres Todes in einer psychischen Krise befanden – genaue Zahlen gibt es nicht.