Der Preis der Distinktion
Donald Trump trat an, um erneut Präsident der USA zu werden - mit Erfolg. In der EU regieren vermehrt Rechtspopulisten und die Rechtsextremisten erstarken. Was sind die Ursachen dieses rechten Aufschwungs und was könnte ihn aufhalten? Lars Quadfasel stellte zunächst fest, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus und seiner Protagonisten vom Format Donald Trump keine Besonderheiten der USA darstellen (35/2024). Georg Seeßlen beschrieb den Erfolg Donald Trumps als Ausdruck der dunklen Seite des Amerikanischen Traums (36/2024). Jörg Finkenberger analysierte das Erstarken des Rechtspopulismus als Folge der Krise bürgerlicher Politik, die auch die Sozialdemokratie längst erfasst hat (38/2024). Robert Feustel riet zu einem souveränen Umgang mit rechtspopulistischen Lügen (39/2024). Jan Tölva argumentierte, identitäre Selbstzuordnungen würden immer wichtiger für Wahlentscheidungen (42/2024). Elke Wittich wies auf die Bedeutung der Manipulation der Öffentlichkeit in sozialen Medien hin (43/2024). Detlef zum Winkel legte Trumps Ähnlichkeiten mit dem Faschismus des vergangenen Jahrhunderts dar (44/2024). Emanuel Bergmann widersprach diesem Vergleich und ordnete Trump der Tradition des extremen Rechten innerhalb der US-Republikaner zu (45/2024). Marcos Barreira relativierte die ökonomisch positiv erscheinende Bilanz der Regierungszeit Joe Bidens (48/2024).
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Was haben sie sich bloß dabei gedacht? Für Zeithistoriker wird es spannend sein zu rekonstruieren, wie genau die Entscheidung der demokratischen Parteispitze für Kamala Harris als Kandidatin zustande kam. Nicht wenige der führenden Demokraten sind im Rückblick der Meinung, dass es sich um einen aberwitzigen Entschluss gehandelt habe.
Vor der Niederlage aber hatte man Überschwang zelebriert. Vermutlich blieb auch nichts anderes übrig, als die bis dahin unbeliebte Vizepräsidentin maximal abzufeiern. All die, die Donald Trump fürchteten, hatten kaum eine andere Wahl, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dass man das letzte Aufgebot nicht schlechtredet, verstanden viele intuitiv. Auch hierzulande erklangen Lobeshymnen, weswegen viele Deutsche den Eindruck hatten, Trump werde bei der Wahl Harris klar unterliegen.
Die Gründe für Trumps Erfolg sind vielfältig und viele der an dieser Stelle diskutierten Aspekte sind zu Recht angeführt worden. Wirtschaftliche Fragen spielten ebenso eine Rolle wie die Dramatisierung der Lage durch die Rechten; Sündenböcke wurden gesucht, Desinformation und Verschwörungstheorien in Umlauf gebracht. Auch Elon Musks Einfluss auf die öffentliche Meinung ist nicht zu unterschätzen. Das alles gilt es zu beachten, doch beeinflussen kann man die meisten dieser Faktoren erst mittel- oder langfristig.
Kurzfristig beeinflussbar sind Themensetzung, Diskussionsstil und Personalentscheidungen. Wenn schon ein US-amerikanisches 1933 drohe, wie einige meinen, sollte man da keine Fehler machen. Umso irritierender wirkt es, dass die Demokraten so schlecht aufgestellt in den Showdown stolperten. Fast acht Jahre hatte man Zeit, um geeignete Kandidaten aufzubauen und ein Programm zu entwickeln, das potentielle Trump-Wähler überzeugt. Stattdessen versucht man es lange mit dem greisen Biden, nur um dann überstürzt eine unbeholfene, unpopuläre Kandidatin aufzustellen.
Rechtspopulisten mögen skurril erscheinen und einen anderen sozialen Hintergrund haben als viele ihrer Wähler – und doch vermitteln sie ihnen, eher an deren Realität teilzuhaben, als es Linke können.
Wenngleich es sich »nur« um eine Personalentscheidung handelt, offenbart sich darin doch ein systemisches Problem. Die allgemeine Repräsentationskrise der Demokratie besteht ja gerade in der geringen Responsivität der politischen Repräsentanten auf das Begehren der breiten Bevölkerung. Der Ideengeschichtler Veith Selk beschreibt dies als »kognitive Asymmetrien«. Politische Apparate haben eben eine Binnenlogik, und die kann von der Lebenswelt großer Bevölkerungsteile gehörig weit entfernt sein. Warum etwa die SPD-Spitze weiter am unbeliebten Olaf Scholz festhält, ist für Außenstehende auch kaum nachvollziehbar.
Sicher, die politische Klasse tickt nicht durchweg gleich. Deswegen kann die Empfänglichkeit für Kommunikation zwischen ihren Vertretern und den Wählermilieus variieren. Auffällig ist, dass die Repräsentationskrise vor allem das linke Lager erfasst hat. Ein großer Teil ihrer alten Klientel sieht sich dort nicht mehr vertreten. Hingegen hat man rechtsaußen Vertrauen bei ehemals linksgeneigten Milieus gewonnen. Die entsprechenden Politikergestalten, wie Trump oder nun auch Musk, mögen skurril erscheinen, irre Ansichten vertreten, einen ganz anderen sozialen Hintergrund haben – und doch vermitteln sie vielen Wählern, eher an deren Realität teilzuhaben, als es Linke können.
Diese Verschiebung ist nicht zu unterschätzen. Denn auch wenn man den altlinken Proletenfetisch verwirft, bleiben die Wählersegmente, die gern um den Begriff der Arbeiter angeordnet werden, zentral für die Realisierungsmöglichkeiten linker Politik. Wo linke Parteien und Organisationen als bildungsbürgerliches Klientelprojekt wahrgenommen werden, verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit als Projekte der sozialen Gerechtigkeit. Das gibt Rechtspopulisten die Möglichkeit, jene nun frei gewordenen Wählersegmente an sich zu binden.
Linke Identitätspolitik als Modus von Politik
In Deutschland ist das Problem spätestens mit der zurückliegenden Europawahl Thema geworden. Auch in den USA steht zur Diskussion, warum die Demokraten gerade bei dieser für sie so wichtigen Wählergruppe verloren haben. Wie verheerend sich hier Harris ausgewirkt haben dürfte, deuten interne Umfragen der International Brotherhood of Teamsters an, der größten Einzelgewerkschaft in den USA. Als Biden noch den Wahlkampf führte, favorisierten ihn 44 Prozent der Mitglieder der Transportarbeitergewerkschaft, für Trump wollten nur 36 Prozent stimmen. Nach Bidens Rückzug waren es 60 Prozent für Trump, 34 Prozent für Harris. So ein starker Negativeffekt lässt sich nicht erklären, ohne das Thema Wokeness anzugehen. Entsprechend wird in den USA nun auch kritischer diskutiert, welche Rolle Identitätspolitik bei solchen Verschiebungen spielt.
Man mag einwenden, dass Harris’ Wahlkampf mit woken Parolen sparte und vor allem sozioökonomisch ausgerichtet war. Darum geht es aber schon lange nicht mehr. Das Unbehagen an der linken Identitätspolitik ist nicht bloß ein diffuses Gefühl, das rechte Scharfmacher erzeugen. Es wird damit ein breiter, aber dennoch konkreter Problemkomplex verbunden, der verschiedene Lebensbereiche durchdringt, zum Teil sogar Institutionalisierung erfahren hat. Allein die in den USA heiß geführte Diskussion über Meinungsfreiheit, die sich um Eingriffe in den sozialmedialen Raum dreht, würde es ohne den woken Zuschnitt, den die Debatten über digitalen Hass oft haben, so nicht geben. Auch sind analoge Entwicklungen bei Polizei, Strafbehörden, sogar der Gesetzgebung und eben auch (politischen) Personalentscheidungen zu beobachten.
Man kann linke Identitätspolitik als Modus von Politik verstehen, der in jedem Bereich präsent zu sein vermag. Und dieser Modus wird mit einem ganz spezifischen Milieu assoziiert. Aufgekeimt in mikropolitischen Experimenten der linken Szene, diffundierte er als kulturelle Praxis in den bildungsbürgerlichen Mainstream und wurde zu dessen Markenzeichen im politischen Meinungsstreit. Auch die Demokratische Partei hat sich davon einnehmen lassen.
Fatale Überlappung von Klassen- und Kulturkonflikten
Grob vereinfacht lässt sich über diese neolinke Wissensordnung sagen: Das Denken kreist hier stark um die Frage, wer über was auf welche Weise sprechen darf. Oder auch wie soziale Zusammenhänge partitioniert sein dürfen. Die politische Kultur, die aus dieser technokratischen Sicht erwächst, ist keine deliberative, auch weil sie die Frage der Wahrheit oft zu einer Frage identitärer Definitionsmacht macht. Diese Vorgehensweise, die klassifiziert statt diskutiert, geht einher mit identitätsschützenden talking points. Also zum Beispiel der Behauptung, dass woke ein rechter Kampfbegriff, Kulturkampf ein rechtes Narrativ, Migration ein rechtes Thema sei. Kritische Positionen zur linken Identitätspolitik werden so ausgeklammert.
Auch solche Engführungen schaffen Kognitionsasymmetrie. Und sie führen zu einer fatalen Überlappung von Klassen- und Kulturkonflikten. Denn das woke Bildungsbürgertum mag zwar nicht die Klasse der Superreichen sein, ist aber stark vertreten in Kunst, Medien, Wissenschaft. Es dominiert die kulturellen Produktionsmittel – und drückt damit anderen Milieus unweigerlich seine politische Kultur auf. Je mehr diese durch den identitätspolitischen Modus gefärbt wurde, desto mehr musste es zu kulturellen Brüchen kommen. Es vollzieht sich nun eine »epistemische Scheidung«, wie es der MSNBC-Moderator Chris Hayes 2018 in einem Interview nannte: Die kognitiven Differenzen sind unüberbrückbar.
Das ist erst mal keine Links-rechts-Polarisierung, sondern ein milieubedingter common sense divide. Da die identitäre Neolinke den darin zum Ausdruck kommenden Klassencharakter aber nicht erkennt und Widersprüche oft als Folge rechtsextremer Einflüsse vereinfacht, wird diese kulturelle Bruchstelle zu einem zentralen Moment im politischen Lagerkampf.
Es bringt nichts zu verdrängen, dass die Neolinke (hier wie in den USA) eine bildungsbürgerliche Veranstaltung ist. Und dass bestimmte soziopolitische Milieus mittlerweile mit Wokeness negativ identifiziert werden – und umgekehrt. Im Prinzip schlägt hier die habituelle Intoleranz zurück, die sich zuletzt häufig in die Sprache politischer Moral hüllte. Man wollte Distinktion, man hat sie bekommen. Ohne eine glaubhafte Distanz zum identitätspolitischen Paternalismus werden es Linke erst einmal schwer haben, den rechten Einfluss in manchen Milieus zurückzudrängen. Eine solche Distanz ist für viele zum vorpolitischen Erkennungstest geworden, ob man in der gleichen Welt lebt. Sie entscheidet über die Anschlussfähigkeit der politischen Inhalte.