28.11.2024
Bei der Schach-WM spielen Ding Liren und Dommaraju Gukesh gegeneinander

Der Herausforderer als Favorit

Bei der Schachweltmeisterschaft spielen seit dem 25. November Ding Liren und Gukesh Dommaraju um den Titel. Eine Einordnung

Schon bevor am Montag die Schachweltmeisterschaft in Singapur begann, war klar, dass sie sich deutlich von den vorherigen WM unterscheiden würde. Dem Ideal nach ist das Match um den Titel ein Aufeinandertreffen der beiden besten Spieler der Welt. Es ist die höchste Ehre im Schachsport, in die Reihe der Weltmeister aufgenommen zu werden, um die sich Legenden ranken, und dementsprechend hoch sind die Erwartungen.

Was das diesjährige Match angeht, sind diese allerdings nur begrenzt. Im klassischen Zweikampf verteidigt nämlich nicht wie gewöhnlich der nominell weltbeste Spieler seinen Titel, sondern Ding Liren, der zurzeit gerade einmal auf Platz 22 der Welt­rangliste steht. Seine Gewinnchancen gegen den Herausforderer Gukesh Dommaraju werden von der Fachwelt als äußerst gering eingestuft.

Nach dem Rückzug Carlsens

Nach dem freiwilligen Rückzug des langjährigen Weltmeisters Ma­gnus Carlsen von Weltmeisterschaftskämpfen hatte sich eine sonderbare Situation ergeben: Einerseits schien das mangelnde Interesse des eindeutig besten aktiven Spielers den Titel selbst zu entwerten. Manche – wie Garri Kasparow – bezweifeln seitdem sogar, dass es einen anderen Weltmeister geben solle.

Gleichzeitig hat der Rückzug Carlsens auch den Weg freigemacht für ein Feld, in dem kein Spieler die Konkurrenz klar dominiert. Das hat den Titelkampf von 2023 für einige besonders spannend gemacht, damals spielte der Gewinner des Kandidatenturniers Jan Nepom­njaschtschij gegen den zweitplatzierten Ding Liren.

Während des Matchs zeigte Ding eine außergewöhnliche Resilienz. Er geriet mehrmals in Rückstand, aber es gelang ihm immer wieder, sich zusammenzureißen und aufzuholen. Die Entscheidung fiel im Tiebreak Schnellschach. Ding bewahrte erneut die Nerven, er vermied ein Remis durch dreifache Stellungswiederholung, fesselte seinen eigenen Turm und spielte hochpräzise eine hochkomplizierte Stellung zum Sieg und damit zum Titel.

Dings Probleme und das Hoch seines Herausforderers

Irgendetwas scheint danach mit ihm passiert zu sein, denn seit ­diesem großen Triumph ist er nicht mehr wiederzuerkennen. Nach langer Erholungsphase zeigte er desolate Spiele, gewann kaum und stellte des Öfteren sogar einzügig Figuren ein. Gegen Carlsen übersah er beim renommierten Norway Chess ein mögliches Matt in zwei Zügen.

Gerüchte über schwere psychische Probleme kamen auf, die der 32jährige schließlich in der Taz bestätigte. Er leide an Depressionen und Schlafstörungen, was zu zwei Klinikaufenthalten führte. Die Nervenstärke, unbestritten eine der wichtigsten Eigenschaften eines Weltklassespielers, lässt der schon immer schüchterne Ding Liren seit seinem großen Triumph vermissen.

Russland hat im Schach stark an Bedeutung verloren. Unter den 31 Spielern mit einer Wertungszahl über 2.700 spielen nur noch zwei für Russland beziehungs­weise aufgrund von Auflagen unter der Flagge der Fide. Für Indien ist Schach dagegen zum Vorzeige­sport geworden.

Während der Schacholympiade in Budapest konnte eine geringfügige Besserung festgestellt werden, allerdings gelang es ihm auch dort nicht, ein einziges Spiel zu gewinnen. An die Form des Titelkampfs kam er bislang nicht mehr heran, geschweige denn an die vor der Covid-19-Pan­demie, als er zwischen 2017 und 2018 genau 100 Spiele lang ungeschlagen blieb.

Dings Probleme stehen im starken Kontrast zum Hoch seines Herausforderers, dem aus Chennai stammenden Inder Gukesh Dommaraju. Er ist erst 18 Jahre alt und damit der jüngste Mann, der jemals einen Schachweltmeister herausgefordert hat. Er wirkt und spielt aber keinesfalls wie ein Teenager, sondern strahlt immer eine professionelle Ruhe aus.

Sein Weltranglistenplatz fünf (Elo-Wertung 2.783) ist das Resultat seines großen Talents sowie der indischen Schachförderung. Der Sohn eines Chirurgen und einer Mikrobiologin erlernte das Schachspiel mit fünf Jahren und konnte bereits im Alter von acht Jahren erste regionale Turniere für sich entscheiden. Um das Talent des Sohns bestmöglich zu fördern, kündigte sein Vater seine Stellung im Klinikum, Gukesh wurde schon nach der vierten Klasse aus der Schule genommen. Im Alter von zwölf Jahren, sieben Monaten und 17 Tagen wurde er zweitjüngster Großmeister der modernen Schachgeschichte (nach Sergej Karjakin).

»Worried about losing badly«

Für großes internationales Auf­sehen sorgte er bei der Schacholympiade 2022, bei der er die mit Talenten gespickte zweite indische Mannschaft am ersten Brett anführte und dort neun von elf Punkten holte (Turnierleistung: 2.867 Elo-Punkte). Auch im folgenden Jahr zeigte er Weltklassevorstellungen, so dass er sich über die Gesamtleistungen bei wichtigen Turnieren des Weltschachverbandes Fide für das Kandida­tenturnier qualifizierte. Das wie stets extrem starke besetzte Kandida­ten­turnier 2024 in Toronto konnte ­Gukesh als 17jähriger mit neun von 14 Punkten knapp vor den Superstars Hikaru Nakamura, Jan Ne­pomnjaschtschij und Fabiano Caru­ana gewinnen.

Seinen Höhenflug setzte er im Sommer fort, als er bei der Schach­olympiade in Budapest am ersten Brett das indische Team mit neun von zehn Punkten sowie einer sagenhaften Turnierleistung von 3.056 anführte und zum Sieg brachte. Sein Spielstil wird als äußerst präzise beschrieben, seine Kalkulationsfähigkeit stets hervorgehoben. Er rechne Varianten extrem tief und schnell und mache auch aus diesem Grund kaum jemals Fehler. Sein erwachsener Spielstil, das scheinbare Fehlen jeglicher Nervenschwächen sowie seine zuletzt extrem starke Form machen Gukesh im Spiel gegen Ding Liren zum eindeutigen Favoriten. Das sieht auch Ding so: »I’m worried about losing very badly.«

Andererseits haben Weltmeisterschaftskämpfe im Schach häufig eine Eigendynamik. Selten gelingt es Spielern, ihre besten Fähigkeiten ans Brett zu bringen – zu groß ist der Druck, zu ungewohnt die Bühne. ­Gukesh wird in seinem Herkunftsland schon mehr oder minder als Weltmeister gehandelt, so dass enorme Erwartungen auf dem gerade einmal 18jährigen lasten.

Machtverschiebung im Profischach

Das Match ist nicht nur ein Kampf zwischen den Generationen, sondern steht auch für eine Machtverschiebung im Profischach. Russland hat stark an Bedeutung verloren. ­Unter den 31 Spielern mit einer Wertungszahl über 2.700 spielen nur noch zwei für Russland beziehungsweise aufgrund von Auflagen unter der Flagge der Fide. Das Feld dominieren von US-Amerikaner und immer stärker der indische Nachwuchs. Für Indien ist Schach zum Vorzei­gesport geworden. Auch wenn das bevölkerungsreichste Land der Welt bei den Olympischen Sommerspielen 2024 lediglich einmal Silber und fünfmal Bronze holen konnte, ist es prägend für den gegenwärtigen Schachsport geworden.

Gukesh ist längst nicht das einzige Spitzentalent: Spieler wie Arjun Erigaisi oder Rameshbabu Praggnanandhaa sind ebenfalls künftige Ti­tel­aspiranten. Die hindunationalistische Regierung Narendra Modis weiß den Nachwuchs für sich einzuspannen. Nach dem Sieg bei der Schacholympiade bestellte Modi die Spieler und Spielerinnen des offenen und des Frauenturniers zum Gespräch. Ganz in Weiß gekleidet in­szenierte sich der Premierminister als eine Art spiritueller Lehrer der jungen Stars.

Während Gukesh und Ding in den letzten Zügen der Vorbereitung sind, erregte ein anderes Zusammentreffen in Singapur für Aufsehen. Der deutsche Multimillionär Jan Henric Buettner finanzierte ein Schach960-Minimatch zwischen Carlsen und Caruana, den derzeit wahrscheinlich stärksten Spielern im klassischen Schach. Schach960, auch Fischer Random genannt, ist eine Schachvariante, in der die Figuren nicht in der üblichen Ausgangsstellung, sondern in einer von 960 Varianten stehen. Dadurch wird die Eröffnungsvorbereitung hinfällig und allein das üb­rige schachliche Können, also positionales und taktisches Verständnis, entscheiden. Viele der besten Großmeister neigen derzeit zu dieser ­Variante, weil sie sich davon spannendere Partien erhoffen und sie überdies weniger Vorbereitungszeit benötigen.

Preisgeld von 2,5 Millionen US-Dollar

Gespielt wurde zunächst auf einer Superjacht, danach in einem Tresorraum. Der elitäre Glanz, die Wahl der Spieler und der Austragungsort ­Singapur wurden von einigen als Affront gegen die ebenfalls im Stadt- und Inselstaat stattfindende Weltmeisterschaft gewertet. Besonders aufregend waren die zwei Partien Carlsen–Caruana aber nicht. Insbesondere die zweite irritierte durch uncharakteristische Patzer der Kontrahenten im Endspiel. Carlsen gewann das Match, das allerdings wohl kaum mehr als eine Fußnote zur ­eigentlichen Weltmeisterschaft wird.

Gukesh und Ding spielen 14 Runden klassisches Schach mit 120 ­Minuten Bedenkzeit pro Spieler, ergänzt von zusätzlicher Bedenkzeit nach Zug 40 (plus 30 Minuten und plus 30 Sekunden Inkrement pro Zug). Nach jeweils drei Spieltagen folgt ein Ruhetag, so dass die Weltmeisterschaft, falls es einen eindeutigen Sieger gibt, spätestens am 13. Dezember enden sollte. Insgesamt wird um ein Preisgeld von 2,5 Millionen US-Dollar gespielt, das insbesondere für Siege ausgeschüttet werden soll.