28.11.2024
Alexandra Cohen, Mitarbeiterin des Veröffentlichungskomitees, im Gespräch über das linke griechische Magazin Shades

»Für uns war der Holocaust keine Entgleisung«

»Shades« übersetzt internationale linke Diskussionsbeiträge ins Griechische und bewertet sie. Die »Jungle World« sprach mit der Mitarbeiterin des Veröffentlichungskomitees Alexandra Cohen über die Geschichte und den Schwerpunkt der aktuellen Ausgaben des Magazins.

Wer seid ihr und wie versteht ihr euch politisch?
Wir bestehen im Wesentlichen aus Linken, die das Thema Antisemitismus in Griechenland und international in verschiedenen Kreisen diskutiert haben. Anfangs hatten wir Verbindungen zu einigen antifaschistischen Gruppen in Griechenland, die den Antisemitismus innerhalb der Linken thematisiert ­haben. Doch wir haben bald festgestellt, dass deren Analysen theoretisch unzureichend sind. Diese Gruppen wandten sich mehr und mehr von einer kritischen Theorie der Gesellschaft ab und der Identitätspolitik zu. Es war damals richtig, uns von diesen Gruppen zu distanzieren, denn sie beschäftigen sich heute nicht mehr mit Antisemitismus; im Gegenteil, sie vertreten mitunter strukturell antisemitische Positionen unter dem Deckmantel geopolitischer Analyse. Wir sind zu dem Schluss ­gekommen, dass wir ohne ein tieferes Verständnis kapitalistischer Vergesellschaftung und einen materialistischen Ansatz nur oberflächliche Antworten finden würden.

Es geht euch also darum, materialistische Gesellschaftskritik voranzutreiben?
Ja, ein weiterer Beweggrund für das Projekt Shades liegt in der gegenwärtigen Ära, die von Abwesenheit radikaler Kritik und Aktion sowie vom historischen Niedergang der kommunistischen Bewegung geprägt ist. Unser Ziel mit Shades ist es, den intellektuellen und politischen Stillstand unserer Zeit zu durchbrechen – als ein experimentelles Laboratorium für Theorie, Aktion und Kritik vor allem in Griechenland, aber auch im weiteren europäischen Kontext zu fungieren. Derzeit ist deutlicher denn je, dass die meisten poli­tischen Bewegungen – ganz gleich, wie sie sich definieren (anarchistisch, antifaschistisch, gar kommunistisch) – in Verwirrung geraten sind. Die meisten von ihnen kann man als Sinnbild der heutigen kapitalistischen Krise und des Niedergangs der kommunistischen Bewegung betrachten.

»Der linke Antisemitismus in Grie­chen­land kanalisiert sich weit­gehend in der ›Solidarität‹ mit den Palästi­­nen­­sern. Das hängt mit dem politi­schen Klima in Griechen­land seit den achtziger Jahren zusammen.«

Wie ist eure programmatische Ausrichtung?
Man könnte sagen, dass sich unsere Inhalte in drei Hauptkategorien gliedern: Theorie, Geschichte und Aktion. Wir versuchen, die Epoche des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Bedeutung des Holocaust, jenseits von marxistischer Orthodoxie zu analysieren. Für uns war der Holocaust keine Entgleisung der bürgerlichen Zivilisation, sondern ihr Kulminationspunkt. Mehrere Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee ist klar, dass der Antisemitismus dort nicht endete. Neben traditionellem Antisemitismus gilt es, dessen Transformation zum Anti­zionismus und den Zusammenhang zwischen verkürztem bis völkischem Antikapitalismus und Antisemitismus innerhalb der Linken zu betrachten. Wir sollten das Fortschrittsverständnis des traditionellen Marxismus überdenken. Radikale Kritik muss von ideologischem Determinismus befreit werden. Der Glaube, dass die Welt unvermeidlich rot würde, ist einer aufklärerischen Analyse hinderlich.

Ihr beschäftigt euch mit der Kritischen Theorie, Moishe Postone und den Arbeiten von Antonio Gramsci, ihr veröffentlicht regelmäßig Texte und organisiert Online-Vorträge – wie kürzlich den zu Jean Amérys Schriften über Folter. All das kostet viel Zeit. Wie organisiert und finanziert ihr euch?
Wir haben uns bemüht, Shades eine starke Online-Präsenz zu geben, aber unsere Arbeit beschränkt sich keineswegs auf das Internet. Neben den regelmäßigen Treffen der Redaktionsmitglieder organisiert Shades Diskussionsveranstaltungen und Versammlungen im ganzen Land, hauptsächlich in Athen und Thessaloniki. Wir organisieren auch Lesezirkel, die sowohl online als auch in Präsenz stattfinden. Der Vortrag zu Améry fand im Rahmen eines Lesekreises zum Thema Antisemitismus statt, der nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 ins Leben gerufen wurde. Daneben machen wir weitere Veranstaltungen, beispielsweise zum ersten Band von »Das Kapital« oder zu den Themen Staat, Ideologiekritik und zu der historischen kommunistischen Bewegung in Griechenland. Es stimmt, all das erfordert viel Zeit und Organisation, und es ist nicht immer einfach, besonders in dieser Gesellschaft, in der die Freizeit immer mehr den Zwängen der abstrakten Arbeit unterworfen ist. Zusätzlich organisiert Shades regelmäßig Treffen für alle Mitglieder, insbesondere unsere sogenannten Sommerzusammenkünfte. Wir waren auch an mehreren politischen Kämpfen beteiligt. Shades wird nicht von der israelischen Botschaft ­finanziert, wie einige Anarchisten und linke Antiimperialisten behaupten (­darüber lachen wir), sondern durch Freunde und Mitglieder.

Die griechische Linke ist gespalten in Leninisten, Anarchisten und weitere Strömungen, die miteinander konkurrieren und sich feindselig gegenüberstehen. Doch wenn es um antisemitische Agitation gegen Israel geht – von Völkermordvorwürfen bis zur Solidarität mit dem »bewaffnetem Widerstand« der Hamas –, scheinen sich die meisten Fraktionen einig zu sein. Wie werdet ihr in der Linken wahrgenommen? Habt ihr Kontakt zu anderen linken Gruppen, werdet ihr angefeindet?
Das ist eine schwierige Frage, die sich nicht in Kürze beantworten lässt. Zusammengefasst: Unterschiedlichste Strömungen der griechischen Linken sind sich einig, wenn es darum geht, gegen Juden und den jüdischen Staat zu agitieren. In deren Augen gelten wir als Apologeten des Völkermords, was in der Vergangenheit Beleidigungen und Bedrohungen nach sich zog. Ein Dialog mit diesem Teil der Linken ist schlicht unmöglich. Dennoch arbeitet Shades mit einigen politischen Gruppen zusammen, die für Argumente offen sind und erkennen, dass die Linke global ­gesehen heute keine emanzipatorische Agenda mehr hat. Wir laden sie regelmäßig zu unseren Treffen in Athen und andernorts in Griechenland ein. Seit der Gründung hat sich Shades an Diskussionen und politischen Kämpfen mit Hunderten von Menschen beteiligt.

Seit dem 7. Oktober artikuliert sich der Antisemitismus in Europa aggressiver. In Athen wurden im Mai israelische Touristen von einem Mob verfolgt, ihr Hotel wurde regelrecht belagert. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Shades hat mittlerweile seine vierte Printausgabe veröffentlicht, die sich auf Antisemitismus nach dem 7. Oktober konzentriert, und ihr habt eine Chronik antisemitischer Vorfälle auf eurer Website veröffentlicht. Wie bewertet ihr das Phänomen des Antisemi­tismus innerhalb der griechischen Linken?
Der linke Antisemitismus kanalisiert sich weitgehend in der »Solidarität« mit den Palästinensern. Das hängt mit dem politischen Klima in Griechenland seit den achtziger Jahren zusammen. Die sozialistische Partei, Pasok, die zwischen 1981 und 2011 insgesamt fast 20 Jahre regierte, kultivierte diese Solidarität mit den Palästinensern und förderte gleichzeitig das Bild von Israel als imperialistisch und proamerikanisch. Heute definiert sich die Linke in Griechenland großteils als antizionistisch und lehnt den Begriff »Antisemitismus« ab. Sie sieht den Zionismus als Wurzel aller Probleme im Nahen Osten und setzt ihn mit Faschismus oder gar dem Nationalsozialismus gleich, weshalb der Kampf gegen Israel als progressiv erscheint. Diese Linke ignoriert die historische Notwendigkeit des Zionismus, während sie in anderen Konflikten durchaus befreiungsnationalistisch argumentiert.

Was kann eine materialistische Linke den verschiedenen konter­revolutionären Kräften, die sich derzeit im Aufwind befinden, entgegensetzen?
Die Linke sollte vorerst klären, was sie als revolutionär und was als konterrevolutionär betrachtet, und sich auf ihre politisch-sozialen Ziele besinnen. Ein kurzer Blick auf die politische Agenda von Bewegungen wie der Hamas im Gaza-Streifen, der Hizbollah im Libanon oder den Houthis im Jemen sollte deutlich machen, dass diese antiwestlichen und irantreuen Kräfte niemals Teil einer emanzipatorischen kommunistischen Bewegung sein können. Eine Linke, die diese faschistischen Banden auch nur irgendwie legitimiert, ist kein Verbündeter für uns.

In Griechenland seht ihr euch mit erheblichen Bedrohungen konfrontiert, sowohl durch die extreme Rechte als auch durch radikale Linke. Gleichzeitig gibt es keine nennenswerte Bewegung für eine befreite kommunistische Gesellschaft. Blickt ihr dennoch optimistisch in die Zukunft?
In einer Ära, die von Antikommunismus und postmodernen Denkweisen, von unkritischem Relativismus und gesellschaftsaffirmativem Akademismus dominiert wird, scheint selbst das Wort »Kommunismus« obsolet. Dennoch bestehen wir darauf, den Kommunismus als unser Erbe und als unser strategisches Ziel zu betrachten. Nicht blind, sondern mit kritischer Refle­xion auf die Grenzen des traditionellen Marxismus und der Arbeiterbewegung. Wir glauben, die materiellen Bedingungen selbst ermöglichen eine ­Reorganisation der kommunistischen Bewegung. Diese wird jedoch nicht ohne eine kritische Analyse kommunistischer und proletarischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts möglich sein und nicht ohne ein Verständnis davon, woran sie gescheitert sind. Es ist definitiv herausfordernd, aber wir kämpfen weiter, weil wir glauben, dass es notwendig ist.