Sex, Gender und Crime
Die aufstrebende Drehbuchautorin Durga, Tochter einer deutschen Mutter, die für den indischen Unabhängigkeitskampf schwärmt, und eines indischen Vaters, der das alles ganz anders sieht, reist von Delhi für ein angesagtes Filmprojekt nach London.
Dekolonisierung ist in der europäischen Kulturszene das Gebot der Stunde ist, auch die Krimiautorin Agatha Christie soll entkolonisiert werden, ein schwarzer Poirot muss her! In London herrscht allerdings gerade Ausnahmezustand. Die Queen ist gestorben, die weißen Untertanen trauern – und beginnen zu wüten, als sich verbreitet, dass nun auch noch ihre Queen of Crime vom Thron gezerrt werden soll.
Das Studio, das die woke Version von Agatha Christie produziert, wird von einer aufgebrachten Volksmenge belagert.
Das Studio, das die woke Version von Agatha Christie produziert, wird von einer aufgebrachten Volksmenge belagert. Das alles wäre schon abenteuerlich genug, aber dann geraten Durga auch noch die Zeiten durcheinander. Plötzlich befindet sie sich im London des Jahres 1907 und ist ein junger Mann namens Sanjeev, der im India House mit indischen Revolutionären über die Unabhängigkeit Indiens debattiert.
Durga, die weiß, dass die noch Jahrzehnte in der Zukunft liegt, verplappert sich immer wieder, dann hält sie den Atem an, weil im India House Leute ein- und ausgehen, die sie bisher nur aus dem Geschichtsbuch kannte: Mahatma Gandhi, der sich als Rassist entpuppt, und Vinayak Savarkar, den ihr Vater für einen »Hindu-Hitler« hält, der aber 1907 noch ein liebenswerter, weltoffener Mann ist, in den Durga sich verliebt, was Probleme macht, weil sie ja die Gestalt von Sanjeev hat, Virendranath Chattopadhyaya, der bald bei Kaiser Wilhelm Zuflucht suchen wird und dort mit dem irischen Aktivisten Roger Casement zusammentrifft …
Dann geschieht auch noch ein Mord, den ein Mann namens Sherlock Holmes aufzuklären hat. Und die Gegenwart greift immer wieder in die Vergangenheit ein! Kurzum, Mithu Sanyals neuer Roman »Antichristie« ist eine wilde, spannende, lustige Geschichte, die man am besten zweimal liest, um alle Details zu begreifen.
Mithu Sanyal: Antichristie. Hanser, München 2024, 523 Seiten, 25 Euro