Bild mal zwei
»Napoleon« des französischen Regisseurs Abel Gance ist ein monumentales Glanzstück der Filmgeschichte. 1927 in der Pariser Oper uraufgeführt, zeigt der Film in seiner Ursprungsfassung von über neun Stunden Spielzeit das Leben Napoleon Bonapartes von seiner Schulzeit bis zum Italien-Feldzug 1796. Es sollte der erste von sechs Teilen über das Leben des Kriegsherrn und späteren Kaisers von Frankreich sein. Nicht nur aufgrund seiner »entfesselten« Kamera – Gance ließ sie auf einer Schaukel über seine Szenerien hinweg schwingen – setzte der Filme neue Maßstäbe. Auch sein als Polyvision bezeichnete Leinwand-Triptychon nahm erst später etablierte Projektionstechniken wie die Cinerama-Technologie der fünfziger Jahre vorweg. Im großen Finale von »Napoleon« wurden zwei zusätzliche Projektoren eingesetzt, um gleich drei Bilder nebeneinander zu zeigen. Gance nutzte diesen Einfall, um die Schlacht gegen Ende seines Films parallel aus drei verschiedenen Perspektiven zu zeigen.
Der Filmwissenschaftler Malte Hagener beruft sich auf »Napoleon« als eines von zahlreichen Beispielen, die zeigen, wie bereits in der Stummfilm-Ära mit Hilfe des Splitscreens, also dem Nebeneinander von zwei oder mehreren Teilbildern, die Grenzen des Kinos ausgelotet wurden. In seinem Buch »Splitscreen. Das geteilte Bild als symbolische Form in Film und anderen Medien« untersucht Hagener, der an der Universität Marburg lehrt, dieses Stilmittel auf seine historischen, ästhetischen und (medien)kulturellen Implikationen hin. »In diesem Sinne«, so Hagener, »ließe sich über eine Geschichte des Kinos erzählen, die zwar nicht alle Aspekte abdeckt, aber doch Auskunft geben könnte über dominante Funktionen, kulturellen Status und jeweiliges Umfeld.«
Hagener zeigt anhand des Splitscreens, wie sich in den Anfängen des Kinos dessen Sprache und Grammatik aus der Lust am Experiment herausbildete.
Dieses Vorhaben gelingt Hagener auf eindrückliche und durchwegs schlüssige Weise, indem er sich chronologisch durch die Filmgeschichte arbeitet und vor allem Hollywood-Filme untersucht. So zeigt er anhand des Splitscreens, wie sich in den Anfängen des Kinos dessen Sprache und Grammatik aus der Lust am Experiment herausbildete. Der Splitscreen war dabei eine frühe Methode, um Spannung zu erzeugen. Die Filmforschung, so Hagener, zeige jedoch, dass die von D. W. Griffith zur gleichen Zeit erfundene Parallelmontage, also das schnelle Schneiden zwischen zwei sich im Film gleichzeitig ereignenden Handlungen, hinsichtlich der Dramaturgie und der Entfaltung von Spannung weit effektiver ist als der Splitscreen, der im weiteren Verlauf nur in besonderen Fällen Verwendung fand. Denn im klassischen Hollywood-Kino, das den Erzählmodus zu verbergen strebte, erforderte der Einsatz einer Technik, die wie der Splitscreen »ihre eigene Künstlichkeit hervorhebt«, so Hagener, »eine starke Motivation, die von Mitte der 1910er bis in die 1960er vor allem das Telefon darstellte«.
Es stellt sich also die Frage, unter welchen Umständen »eine vermeintlich barocke Technik« wie der Splitscreen mit einem (Hollywood-)Kino, das einen Realitätseindruck hinterlassen will, vereinbar ist. Hagener findet eine Antwort darauf in der Komödie »Pillow Talk« von Michael Gordon aus dem Jahr 1959. Darin geht es um die Innenarchitektin Jan (Doris Day), die ihren Telefonanschluss mit dem Komponisten und Frauenhelden Brad Allen (Rock Hudson) teilen muss. Die Technologie (das Telefon) und die thematische Verhandlung zweier einander abstoßender Geschlechtsstereotype (moderne Form von Weiblichkeit versus traditionelles Männerbild) tolerieren den Einsatz des Splitscreens, da er sich in die Narration integrieren lässt und ihr sogar nützt. »Das klassische Kino«, so Hagener, »erfordert eine Motivation, die auf Figur und Erzählung fundiert, die sich also nicht allein der Erforschung von formalen Mitteln oder ästhetischen Charakteristika widmen kann.«
New Hollywood und neue ästhetische Wege
Die aufschlussreichsten und interessantesten Kapitel im Buch widmen sich den Jahren von 1960 bis 1980, als das US-Mainstream-Kino vor allem mit dem Aufkommen von New Hollywood neue ästhetische Wege einschlug. Zu nennen sei »Grand Prix« (1966) von John Frankenheimer, der das hektische Schauspiel von Autorennen mit Splitscreen zeigt. Oder Richard Fleischers Serienkiller-Film »The Boston Strangler« (1968), der bewusst das continuity editing demontiert und die umfangreiche Ermittlungsarbeit von Polizisten bei der Suche nach dem Killer nicht als Parallelmontage zeigt, sondern in einem Splitscreen auffächert.
Als Inspirationsquelle für diese Lust am Experiment, die stets die Grenzen des klassischen Erzählens auslotete, aber nie komplett durchbrach, dienten den damaligen Regisseuren thematische Großausstellungen, auf denen im großen Stil mit »Multi-Projektions-Dispositiven« experimentiert wurde. Vor allem die Weltausstellung 1967 in Montreal bildete einen »Kristallisationspunkt in der Entwicklung des projizierten Bildes«, da dort vielfach Experimente mit multiplen Leinwänden gezeigt wurden, für die der Film nicht mehr als klassischer 90minütiger Spielfilm, sondern als »Bewegtbild in einer neuen, flexiblen Erscheinungsweise« begriffen wurde.
Vor allem hier zeigt sich die Stärke von Hageners Unterfangen, wenn er Verbindungen zwischen Filmästhetik und gesellschaftlichen Transformationsprozessen aufzeigt, die jener Zeit inhärent waren: »Bot das klassische Kino mit seiner eindimensionalen Storyline, der klaren Linearität und dem eindeutigen Ursache-Wirkungs-Schema noch die angemessene Form der Informationsorganisation für das Industriezeitalter mit seinen (Foucaultschen) Disziplinarmilieus, so erforderte die beginnende Vernetzung der Welt ein anderes Muster, das in Montreal erstmals erprobt wurde.«
Dominanz der Kommunikationstechnologien
Ein Kino des Splitscreens, das sich in seiner Rezeption stark durch Flexibilität und Gleichzeitigkeit auszeichnet, wird somit zur Vorhut »eines kontrollgesellschaftlichen Regimes der Selbstüberwachung und der Selbsttechnologien zur Leistungssteigerung«, wie Hagener es bezeichnet. Nach einem umfangreichen Exkurs über Brian De Palma, der in einem Großteil seiner Filme (»Sisters«, »Dressed to Kill«, »Femme Fatale«, doch am berühmtesten wohl in der Prom-Szene in »Carrie«) anhand des Splitscreens über Fragen der Erzählhaltung und der ästhetischen Gegebenheiten der Gegenwart nachdachte, widmet sich das letzte Kapitel dem Splitscreen im digitalen Zeitalter.
Während der Splitscreen in den achtziger Jahren kaum Verwendung fand, wurde er ab den Neunzigern wieder populärer. Das hing vor allem mit der einfacheren Anwendung zusammen, da keine aufwendigen Drehpläne mehr nötig waren und die Anordnung eines Splitscreens auch in der Postproduktion hergestellt werden konnte. Ein herausragendes Beispiel aus der Zeit dürfte der Film »Timecode« (2000) von Mike Figgis sein, der durchgehend einen Splitscreen aus vier Teilbildern verwendet. Das Problem, dass das Publikum durch die parallele Anordnung der Bilder wichtige Informationen verpassen könnte, umschifft der Film über den Ton. Immer wenn etwas Wichtiges passierte, wird im entsprechenden Bild der Ton lauter. Die Bildmontage zieht somit in die
Köpfe des Publikums, das von einem Bild zum anderen wandert. Auch die Fernsehserie »24« (ab 2001) wäre zu nennen, die unter Zuhilfenahme des Splitscreens die Dominanz der Kommunikationstechnologien in einer globalisierten und vom Terror bedrohten Welt thematisiert.
Der Splitscreen, das veranschaulicht das Buch sehr eindrücklich, kann als narrativ-ästhetische Anordnung sehr vielgestaltig eingesetzt werden. Das zeigt sich nicht zuletzt im sogenannten Desktop-Thriller, ein Filmgenre, das ausschließlich das Interface eines digitalen Endgeräts verwendet und die Kommunikationsmöglichkeiten über soziale Medien mit einer neuen Erzählform verbindet.
Malte Hagener: Splitscreen. Das geteilte Bild als symbolische Form in Film und anderen Medien. Bertz + Fischer, Berlin 2024, 240 Seiten, 34 Euro