21.11.2024
Nikolai Klimeniouk, Publizist, im Gespräch über seine Kritik an der russischen liberalen Opposition

»Dieser Opposition fehlt die Gesellschaftskritik«

Drei prominente Vertreter der liberalen russischen Opposition – Julija Nawalnaja, die Witwe von Aleksej Nawalnyj, sowie die kürzlich aus russischer Haft entlassenen Politiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa – hatten vergangene Woche zu einem Antikriegsmarsch in Berlin aufgerufen. Zahlreiche Personen aus der Ukraine hatten bereits zuvor angekündigt, nicht teilzunehmen. Der Publizist Nikolai Klimeniouk ist einer von ihnen. Im Interview erklärt er seine Kritik an der russischen liberalen Opposition.

Haben Sie am Sonntag am Antikriegsmarsch teilgenommen?
Nein. Es fängt schon damit an, dass das eine Veranstaltung von Russen für Russen war. Das ist die Absicht der Veranstalter: die Exilrussen, die gegen Putin sind, zu sammeln und sie zu einer politischen Kraft zu machen. Da fühle ich mich nicht angesprochen.

Die Forderungen der Demonstration lauteten: Russische Truppen raus aus der Ukraine, Wladimir Putin vor Gericht und Freiheit für alle politische Gefangenen. Sind das nicht sinnvolle Ziele?
Das sind natürlich gute Forderungen, aber, und das wurde von verschiedenen Seiten schon vor der Demonstration kritisiert, sie sind maximal vage. Es wurde weder gesagt, an wen sie gerichtet sind, noch, wie sie erreicht werden sollen. Wie soll Putin dazu gebracht werden, die Truppen abzuziehen? Wer soll ihn vor Gericht stellen? Man hätte auch Forderungen an die deutsche Regierung stellen können. Stattdessen standen relativ abstrakte Bekenntnisse im Vordergrund und das Ziel, zu zeigen, dass es Russen gibt, die gegen den Krieg und gegen Putin sind. Für eine politische Demonstration fand ich das ein bisschen zu lasch.

Julija Nawalnaja sagte der Zeit auf die Frage, ob sie Waffenlieferungen an die Ukraine befürworte: »Das ist schwer zu sagen. Der Krieg wurde von Wladimir Putin entfesselt, aber die Bomben treffen auch Russen.« Ist das die Position der Veranstalter?
Auch Ilja Jaschin sagte mir, er werde diese Frage nicht diskutieren, diese Forderung müsse die ukrainische Regierung stellen. Viele störte es auch, dass die Veranstalter russische Nationalflaggen auf dem Marsch zulassen wollten. Die Veranstalter wollten das auch nicht diskutieren, weil sie es für ein spaltendes Thema halten. Was es ja auch ist. Selbst viele russische Exilanten wollen derzeit nicht auf eine Demonstration mit russischen Nationalflaggen gehen.

»Aleksej Nawalnyjs Fokus auf die Korruption hat von grundlegenden Problemen abgelenkt und ging auf Kosten des Einsatzes für Bürgerrechte oder der Kritik an der aggressiven Außenpolitik.«

Ilja Jaschin sagte in einem Interview, man könne der russischen Propaganda kein besseres Geschenk machen als Bilder davon, wie Teilnehmern die russische Flagge weggenommen wird. Zeigt das nicht vor allem, dass er daran denkt, wie die Demonstration in Russland aufgenommen wird?
Ihre Botschaft lautet: Es ist Putins Krieg. Im Aufruf zum Marsch heißt es, es stehe nur eine Person der glücklichen Zukunft Russlands im Weg, nämlich Putin. Das sehe ich anders. Es ist eine Illusion, dass diese Oppositionellen einen sehr großen Teil der Bevölkerung in Russland hinter sich hätten, eine schreckliche Selbsttäuschung, die Aleksej Nawalnyj das Leben gekostet hat. »Das russische Volk ist gut, unsere Führer sind entsetzlich«, schreibt Nawalnyj in seiner posthum erschienenen Autobiographie.

Aber sagt man so etwas als Politiker nicht einfach? Hätte er etwa seine potentiellen Wähler beschimpfen sollen?
Das Problem ist die völlige Abwesenheit von Gesellschaftskritik in dieser russischen Opposition. Jede politische Bewegung, außer eine populistische, kritisiert eigentlich die Gesellschaft. Aber diese Opposition fordert nichts von der Gesellschaft, sie will sie nicht aufklären, sie nicht verändern. Sie kritisiert nur Putin und sein Regime. Die Gesellschaftskritik ist irgendwann in den nuller Jahren abhandengekommen.

Warum damals?
Man sollte die Bedeutung von Nawalnyj zwar nicht überschätzen, aber er war eine wichtige Figur, an der sich viele Tendenzen ablesen lassen. Er ist Anfang der nuller Jahre in die Politik gegangen, zunächst in der liberalen Partei Jabloko. 2007 gründete er mit dem Schriftsteller Sachar Prilepin, der bei den kurz davor verbotenen Nationalbolschewisten Mitglied war, die nationalistische Bewegung Narod (»Das Volk«, gleichzeitig kurz für Nationale Russische Befreiungsbewegung, Anm. d. Red.), die unter anderem von den Russen als dem größten durch Grenzen geteilten Volk Europas sprach. Aus dieser Zeit stammen die gewaltverherrlichenden rassistischen Videoclips, die Nawalnyj bis heute nachhängen. Nawalnyj wurde aus der Partei Jabloko ausgeschlossen.
Aber wenige Jahre später war er, der kurz zuvor noch gegen Liberale gehetzt hatte, prominenter Vertreter der liberalen Opposition. Nawalnyj hat immer gesagt, er wolle Nationalisten in die verfassungskonforme Politik einbinden, und das ist ihm auch gelungen. Verloren gegangen ist dabei, was die Opposition zuvor eher ausgemacht hatte, klassisch liberale Themen, Aufklärung, Gesellschaftskritik. An die Stelle trat modern verhüllte Volkstümelei. Ich erlebte das 2013, als ich in Moskau wohnte und Nawalnyj für das Bürgermeisteramt kandidierte.

Wie trat er damals auf?
Er hatte eine sehr kluge und effektive Grassroots-Kampagne mit vielen Freiwilligen und bekam am Ende fast 30 Prozent der Stimmen. Aber seine Kampa­gne war populistisch und bestand inhaltlich im Wesentlichen aus zwei Themen: Kritik an Korruption und Hetze ­gegen Migranten. Die Moskauer Stadtregierung hat dann auch Migranten schikaniert und abgeschoben, um zu zeigen, dass sie etwas tut.

Und dennoch wurde Nawalnyj von der liberalen Opposition unterstützt?
Kritik gab es wenig. Selbst die, die diese Ausländerfeindlichkeit nicht teilten, wollten nicht, dass sich die Opposition spalten lasse.

Gut, aber Nawalnyj hat sich ja entwickelt. Sie haben seinen ehemaligen politischen Partner Sachar Prilepin erwähnt. Dieser hat schon 2017 im Donbass gegen die ukrainische Armee gekämpft und ist heutzutage staatstreuer Kriegspropagandist. Nawalnyj ist stattdessen im Gefängnis wahrscheinlich vom Regime ermordet worden. Unterschiedlicher könnten die Karrieren kaum verlaufen sein.
Ja, sie gingen in völlig unterschiedliche Lager. Prilepin ist ein Ideologe des Kriegs, und das ist bei Nawalnyj natürlich nicht der Fall. Interessant ist übrigens, dass Prilepin in Nawalnyjs Autobiographie überhaupt nicht erwähnt wird.

Jedenfalls wurde Nawalnyj zum entschiedenen Gegner des Staats …
 … Gegner Putins. Wenn die Leute sagen, Putin sei das Problem, dann sollte man ihnen glauben, dass sie es auch so meinen.

Aber selbst die Korruption des Regimes, die für Nawalnyj im Mittelpunkt stand, hätte man ja nicht abschaffen können ohne radikale politische Veränderungen. Auch wenn Nawalnyj das nicht klar gewesen sein mag, forderte er damit mehr als nur einen Regierungswechsel …
Tatsächlich hat er seine Politik immer eher als einen Machtkampf mit der Regierung verstanden, die man auswechseln müsse. Damit hat er das System völlig unterschätzt.
Auch haben ihn andere faschistoide Aspekte des russischen Staats, beispielsweise der Militarismus, nicht so gestört, wie sie einen Demokraten hätten stören sollen. Er vermittelte den Eindruck, dass die Korruption das größte Problem Russlands sei, was de facto die Verhältnisse beschönigte – auch gegenüber dem Ausland. Für jemanden wie Gerhard Schröder oder Frank-Walter Steinmeier ist Korruption etwas, das sie verstehen können. Zwar nicht als wirtschaftliche Interessen eines Staats oder Wirtschaftszweigs, sondern als Verhalten von Personen oder Gruppen, jedenfalls aber als etwas, von dem sie denken, dass sie damit umgehen können. Deshalb glaubten deutsche Regierungen ja auch, dass Putin und seine Clique nichts tun würden, was ihren Reichtum gefährden könnte. So hat der Fokus auf die Korruption von grundlegenden Problemen abgelenkt, und bei der Opposition ging er auf Kosten des Einsatzes für Bürgerrechte oder der Kritik an der aggressiven Außenpolitik.

»Sowjetische Dissidenten wie beispielsweise Andrej Sacharow hatten noch grundlegende Abrüstung gefordert, auch bei Atomwaffen, das ging völlig verloren.«

Selbst nach Beginn der Kriege in der Ukraine oder in Syrien?
Natürlich kritisierten viele die Kriege, beispielsweise Ilja Jaschin. Aber insgesamt war Kritik am russischen Militarismus ein Randthema. Sowjetische Dissidenten wie beispielsweise Andrej Sacharow hatten noch grundlegende Abrüstung gefordert, auch bei Atomwaffen, das ging völlig verloren. Nawalnyj hat die Kriege vor allem als Verlustgeschäfte kritisiert, die Russland schaden. Es gab eine typische Sensibilität für russische Opfer, während die Opfer russischer Soldaten, in Tschetschenien, Georgien, der Ukraine, Syrien oder heute in Afrika, weniger im Bewusstsein waren. Diese Ignoranz hat bei vielen dazu geführt, die Entwicklung des Regimes zu unterschätzen.

Aber seit 2022 gibt es ja eine völlig neue Situation, in der klar ist, dass der Krieg im Mittelpunkt jeder Opposition zu Putin stehen muss.
Seit 2022 … Das ist auch so eine Sache. In der Sowjetunion hieß es auch immer, der Zweite Weltkrieg habe 1941 begonnen. Wenn Ukrainer darauf bestehen, dass der Krieg gegen ihr Land schon 2014 begonnen hat, dann, weil für sie der Krieg tatsächlich schon 2014 begonnen hat, mit 13.000 Toten, 1,5 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen und dem Verlust von Territorien bereits vor 2022.

Heutzutage können zumindest die Russen, die ins Ausland fliehen mussten, den Krieg kaum noch ignorieren.
Ja, viele sind aus Russland geflohen, weil sie das alles furchtbar finden oder die Repression nicht ertragen oder Angst haben, zum Militär einberufen zu werden. Aber ich würde sie nicht alle pauschal als Kriegsgegner bezeichnen. Man kann auch gegen den Krieg sein wie Sahra Wagenknecht, die AfD oder Donald Trump. Für einige wäre ein Diktatfrieden schon eine Lösung und mit Hoffnung auf eine Besserung der Lage in Russland verbunden. Wo dann die Ukraine bleibt, ist nicht unbedingt die Priorität.

Was wären denn Ihre Forderungen an die russische Opposition?
Ich bin ja kein Politikberater, aber ich kann sagen, was ich mir gewünscht hätte. Zum Beispiel fundamentale Kritik an der russischen Gesellschaft und dem russischen Staat und eine starke antimilitaristische Ausrichtung, auch gegen Atomwaffen, damit Russland keine Bedrohung mehr für seine Nachbarländer darstellt. Ich hätte mir gewünscht, dass führende Oppositionelle zur Hilfe für die ukrainische Armee aufrufen und Spenden für sie sammeln, dass sie zu konkreten Taten anhalten, zu zivilem Ungehorsam und Sabotage, und auch versuchen, diese Taten zu organisieren. Sie sollten aufhören mit der peinlichen Argumentation, dass sie nicht aus dem Ausland zu gefährlichen Dingen aufrufen dürfen, weil sie ja selbst in Sicherheit seien. Wenn man politische Führung übernimmt, muss man in Sicherheit sein. Stattdessen hat sich Nawalnyj wissentlich in Gefahr gebracht, nicht zuletzt weil er hoffte, dass seine Verhaftung zu großen Protesten führen würde, die vielleicht sogar das Regime ins Wanken hätten bringen können.
Letztlich hätte ich mir mehr Realismus und kritische Gedanken dazu gewünscht, wie so ein Regime entstehen konnte und warum es unterstützt wird, und nicht Oppositionspolitiker, die Volkstümelei betreiben und den Leuten sagen, sie seien schon in Ordnung oder die Bevölkerung werde nur manipuliert. Und ich wünschte mir, dass sie sich mit dem imperialen Charakter Russlands auseinandergesetzt und entsprechende Gedanken verbreitet hätten.

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Nikolai Klimeniouk

Nikolai Klimeniouk wurde 1970 in Sewastopol auf der Krim geboren, lebte als Jugendlicher in Moskau und kam 1991 als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Er arbeitet seit 1996 als Journalist und war in Russland unter anderem Redakteur bei »Forbes Russia«, Moskaus Stadtmagazin »Bolschoj Gorod« sowie dem unabhängigen regierungskritischen Online-Magazin »PublicPost«, das 2013 unter politischem Druck eingestellt wurde. Seit 2014 lebt er wieder als freier Autor in Berlin und schreibt unter anderem regelmäßig für die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«.

Bild:
Jens Liebchen