Das Gerücht über die Definition
Monatelang wurde über die Bundestagsresolution »Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken« verhandelt und kontrovers diskutiert. Am Donnerstag vergangener Woche konnte der Bundestag sich endlich dazu durchringen, sie anzunehmen, mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP und AfD. Dagegen stimmte das Bündnis Sahra Wagenknecht, die Linkspartei enthielt sich.
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, lobte den Beschluss, forderte aber gleichzeitig, dass daraus »nun konkretes staatliches Handeln erfolgen« müsse.
Bei der Resolution handelt es sich um einen rechtlich unverbindlichen Akt – kaum mehr als eine Absichtserklärung.
Damit spricht Schuster die zentrale Schwachstelle der Resolution an: Es handelt es sich um einen rechtlich unverbindlichen Akt – kaum mehr als eine Absichtserklärung. Viel Platz im Resolutionstext nimmt die Diagnose des Antisemitismusproblems ein. Was dagegen unternommen werden soll, bleibt weitgehend unkonkret. So sollen Länder, Bund und Kommunen »rechtssichere, insbesondere haushälterische Regelungen erarbeiten, die sicherstellen sollen, dass keine Projekte und Vorhaben insbesondere mit antisemitischen Zielen und Inhalten gefördert werden«.
Wie das genau funktionieren soll, wird nicht erklärt. Stattdessen wird der Anti-BDS-Beschluss von 2019 ausdrücklich »bekräftigt«. Darin hatte der Bundestag die Länder und Kommunen dazu aufgerufen, der antisemitischen Boykottbewegung BDS keine Gelder und Räume zur Verfügung zu stellen.
Pauschale Verbote juristisch nicht zulässig
Allerdings haben Gerichte – beispielsweise 2022 das Bundesverwaltungsgericht bezüglich der Stadt München – festgestellt, dass pauschale Verbote juristisch nicht zulässig sind, weil sie gegen die Meinungsfreiheit verstoßen. Mit keinem Wort geht die neue Bundestagsresolution auf solche praktischen Probleme ein.
Solche Unklarheiten sind aber kaum der Grund, aus dem die Resolution so viel Kritik auf sich gezogen hat. Am meisten Aufmerksamkeit erhielten die alternativen Formulierungsvorschläge, die eine Gruppe von Wissenschaftler:innen der FAZ unterbreitet hat – darunter Ralf Michaels, der Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, Jerzy Montag, Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof, und Paula-Irene Villa Braslavsky, Professorin für Soziologie und Geschlechterforschung.
Ihr Vorschlag wich in zwei entscheidenden Punkten von der nun beschlossenen Resolution ab. Zum Beispiel solle nicht der Staat überprüfen, ob er unwissentlich antisemitische Projekte fördert, sondern es soll von »Personen und Institutionen erwartet« werden, »in Eigenverantwortung Prozesse und Institutionen zu entwickeln, die einer Verwendung öffentlicher Gelder für die Verbreitung von Antisemitismus entgegenstehen«. Das Problem, dass dies in der Vergangenheit nicht besonders gut geklappt zu haben scheint, fällt dabei unter den Tisch.
Mehr Spielraum für antizionistischen Positionen
Außerdem schlägt die Gruppe vor, dass der Staat sich nicht nur an der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) orientieren soll, sondern auch an anderen, wie der Jerusalem Declaration on Antisemitism. Diese bietet mehr Spielraum, antizionistische Positionen für unbedenklich zu erklären.
Im Resolutionstext des Bundestags steht, dass die IHRA-Definition »maßgeblich« herangezogen werden soll. Dieser Punkt schien viele Kritiker:innen am meisten zu stören. So zum Beispiel die neun Bundesarbeitsgemeinschaften der Grünen, die sich in einem Brief an den Parteivorstand gegen die Resolution aussprachen. Sie monierten die Verwendung der IHRA-Definition, weil diese genutzt werde, »um auch legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung als antisemitisch zu diffamieren«.
Geraune beim Deutschlandfunk
Stephan Detjen vom Deutschlandfunk raunte in einem Kommentar, »Abgeordnete, Minister und Parteispitzen« würden hinter vorgehaltener Hand über den Druck »von proisraelischen Lobbyorganisationen, der israelischen Botschaft und dem Zentralrat der Juden auf der einen, von Juristen, Wissenschaftlern, Künstlern auf der anderen Seite« klagen.
Nach dieser Frontbestimmung mit antisemitischen Anklängen behauptete Detjen, die IHRA-Definition werde »von der israelischen Regierung propagiert, weil sie vor allem dazu dient, Kritik an israelischer Kriegsführung und völkerrechtswidriger Besatzung zu delegitimieren«.
Die Mythenbildung über die IHRA-Definition hat sich verselbständigt. Sie hat kaum mehr etwas mit ihrem Text zu tun. Darin werden anhand einiger knapper Beispiele typische Ausdrucksweisen von Antisemitismus dargestellt – zum Beispiel Verschwörungstheorien, Geschichtsrevisionismus und israelbezogener Antisemitismus.
Die Mythenbildung über die IHRA-Definition hat sich verselbständigt. Sie hat kaum mehr etwas mit ihrem Text zu tun
Explizit handelt es sich nicht um eine erschöpfende Klassifikation aller Aussagen über Israel – die individuelle Beurteilung des Einzelfalls kann sie also nicht ersetzen. Weder gibt die IHRA-Definition der israelischen Regierung einen Freibrief, noch verhindert sie Kritik. Sie ist konzipiert als Orientierungshilfe gerade für staatliche Einrichtungen.
Der IHRA-Text macht jedoch deutlich, dass auch das »Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung« ein Beispiel für Antisemitismus sein kann. Wohlgemerkt: kann. Dies müsse »unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts« beurteilt werden, heißt es in der Einleitung.
Wer sogar darin nur ein Instrument erkennt, »legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung als antisemitisch zu diffamieren« – so die grünen Kritiker:innen der Resolution –, will womöglich nur einen Freibrief für den israelbezogenen Antisemitismus, der in Teilen der Kunst- und Wissenschaftswelt inzwischen salonfähig geworden ist. Statt weiter in Phantasien über die IHRA-Definition zu schwelgen, wäre es erstrebenswert, sie endlich mal anzuwenden.