26.09.2024
Leute, die sich seit dem 7. Oktober wieder politisch gegen Antisemitismus engagieren, berichten von ihren Motiven

Aktivismus wider Willen

Mit dem 7. Oktober wurden einige, die sich zurückgezogen hatten, wieder politisch aktiv. Hier stellen sie ihre Beweggründe dar.

Anfang Juni stehen Rainer und Jonas in einer kleinen Gruppe von Menschen vor dem Würzburger Hauptbahnhof. Sie tragen Israel-Fahnen und Schilder mit sich. Auf den Schildern steht »Rape Is Not Resistance«, »Bring Them Home« und »Don’t Believe Hamas«. Übers Handy spielt Jonas die »Hatikvah«, die israelische Nationalhymne. Ein Megaphon dient als Verstärker. Rainer hat einen aufblasbaren Gummiknüppel über der Schulter, ebenfalls in den Farben Israels. Auf der anderen Seite des Bahnhofvorplatzes findet eine antiisraelische Kundgebung statt.

»Ich ging aus Notwehr wieder in den Aktivismus.« Rainer, Deutsch-Israelische Gesellschaft Würzburg

Dass Rainer und Jonas an so einem Protest teilnehmen, hätten sie vor einem Jahr selbst nicht geglaubt. Rainer war ab 1989 in der autonomen Szene aktiv und antifaschistisch organisiert. Im Zuge der Terroranschläge vom 11. September 2001, des stärker werdenden Jihadismus und der unbefriedigenden Reaktionen innerhalb der Linken habe er sich in den nuller Jahren der antideutschen Szene in Würzburg zugewendet, erzählt er der Jungle World. Ab 2007 habe er endgültig nichts mehr zu tun haben wollen mit »linken Weltverbesserungsplänen« und dem »linken Bedürfnis, Leute zu etwas zu drängen, was sie nicht wollen«. Es folgte »eine komplette Abkehr von praktischer Politik«. 16 Jahre lang war er nicht mehr politisch aktiv.

Jonas engagierte sich während seines Studiums 2012 bei Protesten von iranischen Flüchtlingen in Würzburg und unterstützte deren Hungerstreiks. Mit Freunden organisierte er ideologiekritische Vorträge unter anderem mit Joachim Bruhn. Der Jungle World erzählt er, dass es erst 2013 einen Bruch gegeben habe, als er anfing zu arbeiten. »Aus Zeitgründen« habe er jedes Engagement ruhen lassen.

Wochenlang wie gelähmt

Für Rainer und Jonas war der 7. Oktober eine Zäsur. »Ich war wochenlang wie gelähmt«, erzählt Jonas. »1.200 Tote, das war eine unvorstellbare Zahl.« Sein Leitgedanke sei immer »Nie wieder« gewesen. »Ich tat mich mit dem Arbeiten schwer, habe wenig hinbekommen. Wochenlang durchwühlte ich das Internet.« Am 8. Oktober hängte er eine Israel-Fahne aus seinem Fenster. Auch Rainer bestellte sich eine Fahne. Zwei Tage nachdem Rainer sie aufgehängt hatte, habe ein faules Ei an seiner Fensterscheibe geklebt.

»Vor allem die Propaganda hat mich wütend gemacht«, so Jonas. Er habe das nicht unwidersprochen lassen wollen. »Die Erzählung vom angeblichen Genozid, die Leugnung von Vergewaltigungen, die andauernde hyperventilierende Empörung über alles, was Israel angeblich verbrochen habe.« Er ergänzt: »Und langfristig natürlich die erdrückende Bilderflut vom Leid in Gaza. Das war das Perfide, dass das Massaker genau diese Wirkung erzielen wollte. Und erzielt hat.« Rainer berichtet: »Ich wurde depressiv. Und ich neige sonst nicht zur Depression.«

Sowohl Rainer als auch Jonas beschlossen, sich bei der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) in Würzburg zu engagieren. Rainer befestigte noch im Oktober einen Israel-Aufnäher an seiner Jacke. »Mit dem laufe ich seitdem jeden Tag durch die Stadt.« Seit im November die antiisraelischen Proteste in Würzburg begannen, seien sie bei fast jedem Gegenprotest dabei. Er habe Krawall machen wollen, erinnert sich Rainer. »Die Leute sollten wissen, was ich von ihnen halte. Anders war das nicht auszuhalten.«

Klassische Antifa-Arbeit

Jonas habe wieder »klassische Antifa-Arbeit« gemacht. »Ich habe über Teilnehmende und Redner recherchiert, Strafanzeigen gestellt, versucht, dass diese Leute keine Räume bekommen, Tiktok und Instagram durchforstet, Verbindungen dokumentiert und Dossiers erstellt.«

Warum Rainer nach so vielen Jahren wieder aktiv wurde, obwohl er doch »jede Form der Weltverbesserung im falschen System« ablehne? »Ich ging aus Notwehr wieder in den Aktivismus«, sagt er. »Das war nicht ideologisch begründet, sondern praktisch. Politik in der ersten Person Singular, wenn man so möchte.«

Bekannte und Freunde im Kulturbereich hätten sich nicht mehr an bestimmte Orte getraut. »Ich selbst wurde auf der Straße angepöbelt und angespuckt. Man hat versucht, mir den Aufnäher von der Jacke zu reißen.« Die Szene habe sich an einer Bushaltestelle vor der Universität ereignet. Es seien deutsche Studenten oder solche aus dem westlichen Ausland gewesen, wohl keine Aktivisten. Nur einmal habe ihn jemand beleidigt, der mutmaßlich Palästinenser war, »sonst waren das Europäer, die mit dem Konflikt erst einmal nichts zu tun hatten«.

Wegen des gesellschaftlichen Klimas und der alltäglichen Gewaltbereitschaft habe er sich genötigt gesehen zu intervenieren. »Das war für mich nur mit den Dreißigern vergleichbar. Antisemitismus in seiner Reinkultur, in seiner echten Gestalt. Und ich glaube auch, dass die Folgen dessen noch unverstanden sind.«

Wegen Israel-Fahnen angegriffen

Eine andere Geschichte ist die von Benedikt. Ab 2009 war er in Antifa-Gruppen aktiv, war unter anderem beim Bündnis »Ums Ganze« dabei. Doch auch bei ihm gab es einen Bruch. Er erzählt der Jungle World, das Bündnis habe einmal davor gewarnt, zu einer Demonstration Israel-Fahnen mitzunehmen. Als seine damalige Gruppe dennoch mit Flaggen des jüdischen Staats auftauchte, seien sie dafür angegriffen worden.

Ein anderer entscheidender Moment sei gewesen, als 2013 auf einer Demonstration gegen die Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main ein Pärchen – »ein Mann in Lacoste-Hemd und seine Freundin« – grundlos von Personen aus der Demonstration heraus angegriffen worden seien. Er habe sich dazwischen gestellt und ­dafür einen Tritt in den Bauch bekommen.

Seit 2014 lebt Benedikt in Berlin. Bei Demonstrationen gegen den al-Quds-Marsch in Neukölln und anderen israelsolidarischen Protestaktionen sei er angegriffen worden. »Es gab Stein- und Flaschenwürfe, Geschubse und man wurde bespuckt. Man stand zu dritt gegen 100.« Seine aktive Zeit sei damit erst mal zu Ende gewesen.

Nach dem 7. Oktober war Benedikt auf einer großen israelsolidarischen Kundgebung vor dem Brandenburger Tor. Redner hätten dort als Reak­tion auf muslimischen Antisemitismus Abschiebungen gefordert: »Die Leute klatschten. Ich war geschockt.«

Er beschränkte sich darauf, Veranstaltungen der antideutschen Szene zu besuchen. Sein neues Umfeld allerdings habe »den Gang durch die Institutionen« angetreten. Manche seien sogar der Jungen Union beigetreten. Mit dem Konservatismus in großen Teilen der israelsolidarischen Szene habe er sich immer schwer getan. Er selbst blieb stets links.

Nach dem 7. Oktober sei er auf einer großen israelsolidarischen Kundgebung vor dem Brandenburger Tor gewesen. »Das war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Ich traf dort viele Personen, die ich von früher kannte und als Genossen und Genossinnen bezeichnet hätte.« Redner hätten dort als Reak­tion auf muslimischen Antisemitismus Abschiebungen gefordert. »Die Leute klatschten. Ich war geschockt.« In einer antideutschen Facebook-Gruppe habe er ein Bild von zerbombten Häusern in Gaza gesehen, versehen mit dem Spruch »The Beauty of Palestine«. »Ich hatte das Gefühl, das eigene Lager entwickelt sich hin zum Bellizismus.«

Benedikt wollte linke Positionen nicht aufgeben. »Ich war allgemein besorgt über den global erstarkenden Autoritarismus. Hierfür brauchen wir eine geeinte Linke und keine weiteren Spaltungen.« Er habe sich eine linke israelsolidarische Gruppe gesucht und bemühe sich unter anderem um die Zusammenarbeit mit Gruppen, die »nicht unbedingt im selben Maß israelsolidarisch sind«.

Vorführung des Films »Screams Be­fore Silence«

Wichtig sei ihm dabei aber ein Mindeststandard an kritischer Einsicht ins Unwesen des Antisemitismus. Zudem mache auch er wieder »klassische Antifa-Arbeit«. Er habe angefangen, rechtsextreme und neonazistische Gruppen zu beobachten. Auch islamistische Strukturen wolle er besser beobachten. »Das gestaltet sich aber als deutlich schwieriger.«

In Würzburg plant Jonas anlässlich des 7. Oktober mit der DIG gerade eine Vorführung des Films »Screams Be­fore Silence«, der sich mit der sexuellen Gewalt der Hamas am 7. Oktober beschäftigt. »Es gibt aber große Bedenken, Räume für so etwas herzugeben. Man hat Angst vor Übergriffen, Interventionen und Shitstorms. Die Einschüchterungen der letzten Monate haben ganze Arbeit geleistet.«

»Viele linke Netzwerke halten sich bedeckt«, sagt Rainer. Die Frage sei, was das bedeutet. »Es gibt ja auch konkrete Forderungen nach Spaltungen«, meint Benedikt. Er habe Hoffnung, dass der Dialog, den er anstrebt, gelingt.

Rainer wünscht sich, dass man sich gesamtgesellschaftlich mit den Dimensionen des 7. Oktober »auf einer vernünf­tigen Ebene« auseinandersetze; etwa in Form von Vorträgen, Literatur oder Bildungsarbeit. Wenn das Semester im Oktober wieder losgeht, würden wohl aber erst einmal wieder die antiisraelischen Proteste zunehmen, befürchtet Jonas. Alle drei, Jonas, Rainer und Benedikt, werden weiter intervenieren.